Politik Gelassenheit als Gebot der Stunde im neuen Bundestag

Viele Abgeordnete sind zum ersten Mal dabei, für alte Hasen ist es nicht weniger spannend: Die Konstituierung des Bundestages ist immer wieder ein besonderer Moment in der deutschen Demokratie. Der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schafft es, die Aufregung um die AfD zu dämpfen: Niemand vertritt alleine „das Volk“, und wenn gestritten wird, dann nach Regeln, schärft er den Neulingen ein.

Wolfgang Schäuble ist irritiert. Er spricht, aber man hört ihn nicht. „Mikrofon!“, rufen einige aus dem Plenum Richtung Präsidium. Dort sitzt der gerade zum Bundestagspräsidenten gewählte CDU-Politiker unter dem Bundesadler und schaut nach rechts und links zu seinen Helfern. Sie deuten auf einen kleinen Knopf. „Muss ich selber drücken? Na, aller Anfang ist schwer“, scherzt Schäuble. Dann klappt es auch mit dem Ton. Als Minister hatte er sich nie um die Akustik kümmern müssen, sondern um die Schwarze Null. Jetzt aber steht er dem Hohen Hause vor und hadert mit der Technik. Seit 1972 ist Schäuble im Bundestag, seit 45 Jahren vertritt er dort seinen Wahlkreis Offenburg. Er hat in der Opposition gesessen und in der Regierung. Er hat ein Attentat überlebt, ist seit 27 Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Er hat eine Spendenaffäre überstanden und ist neben Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer der letzte aus dem Kabinett von Helmut Kohl, der noch eine wichtige Rolle in der deutschen Politik spielt. Zum 13. Mal erlebt Schäuble eine konstituierende Sitzung des Bundestages, aber zum ersten Mal ist er es, der sie leitet. Schäuble steht am gestrigen Tag wie kein anderer für die Wechselfälle der deutschen Geschichte. Doch selbst für einen Routinier von seinem Schlage ist der feierliche Beginn einer neuen Wahlperiode eine aufregende Sache. Bis er sein neues Amt antreten kann, muss er sich gleichwohl noch gedulden. Ein Tugend, die nicht unbedingt seine Stärke ist. Bevor die Sitzung beginnt, ist das Plenum ein Ort des großen Durcheinanders. Neue Abgeordnete betrachten mit neugierigen Augen die Stuhlreihen, das Rednerpult, die Regierungsbank. Sie machen Selfies vor der Bundesflagge und suchen die Reihen ihrer Fraktion. Die alten Hasen begrüßen sich wie Schüler nach den Sommerferien: Man kennt sich, umarmt sich, klopft sich auf die Schulter. Mit seinen 709 Abgeordneten ist der Bundestag so groß wie nie zuvor. Man muss sich erst daran gewöhnen. Einige FDP-Abgeordnete, die vor vier Jahren das Parlament verlassen mussten und nun wieder da sind, freuen sich wie Schneekönige, etwa der Finanzpolitiker Otto Fricke. Als Kanzlerin Angela Merkel hereinkommt, schnürt sie durch die Reihen und schüttelt fraktionsübergreifend Hände. Dass AfD-Fraktionschef Alexander Gauland ihr zufällig gerade den Rücken zukehrt, dürfte ihr nicht ungelegen kommen. Auf der Tribüne sitzen prominente Gäste: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nimmt neben den ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU), Wolfgang Thierse (SPD) und Rita Süssmuth (CDU) Platz. Auf der anderen Tribünenseite verfolgt der frühere Wirtschaftsminister und FDP-Chef von Rheinland-Pfalz, Rainer Brüderle, das Geschehen. Neben ihm auf der Galerie sitzt AfD-Chef Jörg Meuthen. Die beiden haben sich offenkundig wenig zu sagen. Ebenfalls unter den Beobachtern ist die 95-jährige deutsch-israelische Autorin Inge Deutschkron, die den Holocaust überlebte. Im Plenum gibt es noch leere Sessel – nicht dort, wo die Abgeordneten sitzen, sondern gegenüber auf der Regierungsbank. Hier sitzt niemand, Kanzlerin und Minister mit Mandat haben sich in die Reihen ihrer jeweiligen Fraktion verzogen. Das Kabinett Merkel ist seit gestern auf Bitte von Steinmeier geschäftsführend im Amt. Gleichzeitig ist die große Koalition unzweifelhaft Geschichte. In mehreren Abstimmungen, die noch folgen werden, wird sich zeigen, dass die Jamaika-Parteien CDU/CSU, FDP und Grüne bereits zusammenhalten. SPD, Linke und AfD bilden die Opposition. Vom Rednerpult aus gesehen sitzen die AfD-Neulinge ganz rechts. Die ersten beiden Plätze haben Gauland und seine Kollegin Alice Weidel eingenommen. Ganz hinten, hinter der letzten Reihe von AfD-Abgeordneten, haben die „Abtrünnigen“ ihren Platz: Frauke Petry und Mario Mieruch. Die beiden, noch auf dem AfD-Ticket in den Bundestag gelangt, haben kurz nach der Wahl ihrer Partei den Rücken gekehrt. Vorne genießen Gauland und Weidel die Aufmerksamkeit. Ihr Antrag, wonach nicht der dienstälteste Abgeordnete, sondern der an Jahren älteste die Sitzung eröffnen soll, wird keine drei Minuten nach Beginn von den anderen Fraktionen abgelehnt. Die Regelung war in der vorigen Legislaturperiode eingeführt worden, als klar war, dass die AfD dem nächsten Bundestag angehören wird. Wäre es so geblieben wie seit Gründung der Bundesrepublik, hätte der AfD-Politiker Wilhelm von Gottberg mit seinen 77 Jahren als ältester Abgeordneter diese Sitzung eröffnet. Der AfD-Abgeordnete Bernd Baumann, der die Änderung des Alterspräsidenten mit dem Vorgehen von Hermann Göring im Reichstag 1933 vergleicht, erntet erboste Zwischenrufe. Es ist FDP-Mann Hermann-Otto Solms, der mit seinen 33 Jahren Bundestagszugehörigkeit als Zweit-Dienstältester die Eröffnungsrede hält. Eigentlich wäre Wolfgang Schäuble dran gewesen, doch der verzichtet, weil er als Bundestagspräsident kandidiert und damit ohnehin Rederecht hat. Solms erklärt ausführlich – wohl auch mit Blick auf die Neulinge – die Grundzüge des Parlamentarismus. Er weist darauf hin, dass alle Abgeordneten gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten hätten. „Wir alle haben das gleiche Mandat.“ Es sei die Pflicht des Parlaments, die wehrhafte Demokratie zu stärken. Er appelliert, nicht sprachlos gegenüber Hetze und Parolen zu bleiben, sondern ernsthaft Lösungen für die Probleme der Zukunft zu finden. Die Rede wird höflich beklatscht. Nicht überall kommt gut an, dass Solms vor seiner eigentlichen Rede seiner Freude über die Rückkehr der FDP Ausdruck verleiht. Die „liberale Stimme“ könne sich nun wieder im Bundestag Gehör verschaffen, sagt er. Zur Sache geht es dann in den Reden über Anträge von SPD und Linken zur Änderung der Debattenkultur. Mehr Fragerechte für die Parlamentarier werden gefordert und dass die Kanzlerin vier Mal im Jahr Rede und Antwort stehen müsse. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, wirft der Kanzlerin vor, mit ihrem Politikstil zum Erfolg der AfD beigetragen zu haben. Merkel habe im Wahlkampf jeden politischen Streit über die besseren Ideen und Konzepte verweigert. Das regt selbst die Grünen auf, die der SPD die Rolle des schlechten Verlierers zusprechen. Am Ende mahnt Schäuble, dass es auch viel auf den Stil des Umgangs miteinander ankomme, wenn der Bundestag sein Recht als zentraler Ort der politischen Auseinandersetzung zurückerobern wolle. Und er rät – ohne die AfD zu erwähnen – zu Gelassenheit, wenn es zu Provokationen kommen sollte. Schon oft habe sich die Gesellschaft in Deutschland polarisiert. „Geschadet hat es ihr nicht“, sagt Schäuble. „Die Art, wie wir hier miteinander reden, kann vorbildlich sein für die gesellschaftliche Debatte.“ Die Abgeordneten seien aus der Mitte der Bürger gewählt. „Niemand aber, niemand vertritt alleine ,das Volk’. So etwas wie ,Volkswille’ entsteht überhaupt erst in und mit unseren parlamentarischen Entscheidungen“, sagt der neue Bundestagspräsident. Und ergänzt: Streiten sollte man sich schon, „aber nach Regeln“.

x