Politik 30 Mal ist nichts passiert

Sie hat den Wirbel ausgelöst, sie musste dazu in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Stellung nehmen. Also sprach Parteichefin Angela Merkel nach Angaben von Teilnehmern am Dienstag von einem „überfallartigen“ Vorgehen des Koalitionspartners SPD. Die Genossen wollen die Ehe für alle in diesen Tagen noch vom Bundestagsplenum entscheiden lassen. Auch der Volksvertreter Jens Spahn (CDU) beklagte gestern das Eiltempo. CSU-Mann Johannes Singhammer zürnte gar, „dass das jetzt im Schweinsgalopp in den letzten Stunden der letzten regulären Sitzungswoche in dieser Legislatur durchgepeitscht werden soll“. „Überfallartig“? „Schweinsgalopp“? „durchgepeitscht“? Das ist mindestens eine eigenwillige Wahrnehmung. Denn schon im März 2013, also sechs Monate vor der damaligen Bundestagswahl, hatte der Bundesrat einen entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen und in den Bundestag eingebracht. Damals wurde die Republik noch von Schwarz-Gelb regiert. Doch beschlossen oder abgelehnt wurde der Entwurf im Bundestag nicht. Folglich fiel er der sogenannten Diskontinuität anheim. Das bedeutet: Vorlagen, die vom alten Bundestag nicht abschließend beraten und folglich auch nicht beschlossen werden, müssen neu eingebracht werden. Genau das tat der Bundesrat. Ein unter Federführung von Rheinland-Pfalz erarbeiteter und vom Bundesrat abgesegneter Gesetzentwurf erreichte die Bundesregierung gegen Ende 2015. Am 11. November jenen Jahres schrieb Kanzlerin Angela Merkel an den „Sehr geehrten Herrn Präsidenten“ des Bundestages, Norbert Lammert: „Hiermit übersende ich … den vom Bundesrat am … 25. September 2015 beschlossenen ,Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts’“. Merkel bat Lammert, „die Beschlussfassung des Deutschen Bundestages herbeizuführen“. Mehr als 19 Monate später gibt es nun eine erste Beschlussfassung. Aber der Reihe nach: Der Gesetzentwurf landete im Rechtsausschuss des Bundestages. Und dort schmorte er. 30 Mal, erklärte Ausschussvorsitzende Renate Künast (Grüne) gestern, sollte die Homoehe im Rechtsausschuss aufgerufen und behandelt werden. Doch der Gesetzentwurf wurde mit den Stimmen von CDU/CSU sowie SPD entweder wieder von der Tagesordnung abgesetzt oder vertagt. Phasenweise in jeder zweiten Sitzung des Ausschusses. Die Grünen wollten vor dem Bundesverfassungsgericht sogar eine Abstimmung erzwingen, doch Karlsruhe folgte ihnen nicht. So ging das mehr als 19 Monate lang. Hintergrund der Hinhaltetaktik: Zwar wollten die Sozialdemokraten die Ehe für alle. Schon in ihrem Wahlprogramm 2013 hieß es: „Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften öffnen und diese damit auch im Adoptionsrecht und im Steuerrecht gleichstellen.“ Allerdings wollten Teile von CDU/CSU nicht. Daher ist im Koalitionsvertrag auch nicht von der „Ehe für alle“ die Rede, sondern lediglich von den 2001 eingeführten „gleichgeschlechtlichen Partnerschaften“. Sie sollten Respekt und Anerkennung erfahren, Benachteiligungen sollten abgebaut werden. An dieser Stelle kommt ein Anhang zum schwarz-roten Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode ins Spiel. Der Anhang heißt: „Arbeitsweise der Koalition“. Darin ist unter anderem zu lesen: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab … Anträge, Gesetzesinitiativen und Anfragen auf Fraktionsebene werden gemeinsam oder, im Ausnahmefall, im gegenseitigen Einvernehmen eingebracht.“ Nach Geist und Buchstaben dieser Vereinbarung hätte die SPD gestern nicht mit Linken und Grünen im Rechtsausschuss pro Homoehe gegen den Willen der Union stimmen dürfen. Sagen CDU/CSU. Wäre die Causa Homoehe nicht erst 87 Tage vor der Bundestagswahl hochgepeitscht, sondern früher, die große Koalition wäre am Ende gewesen. Die Kanzlerin hätte wohl Bundespräsident Steinmeier gebeten, die Minister zu entlassen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Doch das ist 87 Tage vor der ohnehin angesetzten Bundestagswahl politisch kaum vermittelbar. Dementsprechend groß ist der Unmut in der Unionsfraktion gegenüber der SPD. Von „Vertrauensbruch“ ist die Rede, der deutliche Spuren hinterlassen werde. Zum Teil richtet sich der Unmut aber auch gegen die eigene Parteichefin. Denn die habe die Lage mit ihren Äußerungen erst herbeigeführt. „Doch, wir dürfen so abstimmen!“ Sagen die Sozialdemokraten. Denn nach ihrer Lesart hat die CDU-Chefin am Montagabend in einer Talkrunde und dann einen Tag später in der eigenen Fraktion die Vereinbarung „Arbeitsweise der Koalition“ quasi außer Kraft gesetzt. Sie hatte die Ehe-Abstimmung zur Gewissensentscheidung für die Abgeordneten erklärt. Das heißt: Der Koalitionszwang gilt nicht mehr. Dieses gängige Verfahren wird gelegentlich bei schwierigsten politischen Entscheidungen gewählt, etwa bei Abstimmungen über militärische Kampfeinsätze im Ausland oder bei der Sterbehilfe. Gestern also ist der Gesetzentwurf, für den der Bundesrat schon im September 2015 grünes Licht gegeben hatte, zum nunmehr 31. Mal im Rechtsausschuss aufgerufen – und beschlossen – worden. Was vor der Entscheidung die Ausschussvorsitzende Renate Künast in Anlehnung an einen Song von Klaus Lage ausrufen ließ: „30 Mal berührt, 30 Mal ist nichts passiert.“

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