Meinung Kann Scholz das Ruder herumreißen?
Es ist ein Satz, den man zweimal lesen muss, weil er so wundersam klingt: Olaf Scholz rechnet fest damit, „dass die SPD und ich 2025 ein so starkes Mandat bekommen, dass wir auch die nächste Regierung anführen werden“. Sagt der Regierungschef, dem 74 Prozent der Bürger in einer Umfrage gerade bescheinigt haben, sie seien mit der Arbeit der Ampel unzufrieden und hielten den Kanzler für führungsschwach.
Den Optimismus des Kanzlers in allen Ehren, aber in welcher Welt lebt Olaf Scholz? Um seinen Wahlsieg von 2021 zu wiederholen, fehlen der 15-Prozent-Partei SPD die Voraussetzungen. Scholz konnte damals die Menschen davon überzeugen, er werde durch seine besonnene Art die unprätentiöse Regierungsarbeit Angela Merkels fortführen. Zudem hatte sich die Union durch ihren parteiinternen Streit und dem daraus hervorgegangenen „falschen Kandidaten“ (Zitat Markus Söder) nicht als regierungsfähig präsentiert.
Die Union treibt den Kanzler vor sich her
Heute gilt davon nichts mehr: Scholz gelingt es nicht, die Ampel zu einer Einheit zu formen, er vermag es nicht, eine echte Verbindung zu den Bürgern aufzubauen, und er ist unfähig, Erfolge der Ampel auch als solche zu verkaufen. Und die Union hat sich unter Friedrich Merz vor allem im Bundestag als hartnäckige Opposition erwiesen, die den Kanzler gerade bei der drängenden Migrationsfrage vor sich hertreibt.
Was ebenfalls grundlegend anders ist als damals: Das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) grast jene Wiesen ab, die die Sozialdemokratie vernachlässigt hat. Die SPD sei eine Ansammlung von Akademikern geworden, die weder die Alltagskultur ihrer einstigen Wähler kenne noch deren Sprache spreche, monierte jüngst Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel. Bei der Europawahl Anfang Juni, der ersten Wahl, bei der das neue Bündnis überhaupt angetreten ist, jagte es der SPD rund 580.000 Wähler ab.
Murrende Fraktion, entzweite Koalition
Wenn es um die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland geht, wird Olaf Scholz allerdings nicht nur von BSW-Chefin Wagenknecht angegangen. Auch in seiner eigenen Partei weht dem Kanzler bei dieser Frage ein scharfer Wind ins Gesicht. Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich sieht die Sache besonders kritisch. Aber selbst wer Scholz in der Sache folgt, ärgert sich darüber, dass der Kanzler nicht ausreichend erklärt hat, warum die Stationierung eine sinnvolle Sache sein soll.
Mit einer murrenden Fraktion und einer entzweiten Koalition im Rücken soll Scholz nun die Wende für seine Partei schaffen. Aber mit welcher Botschaft? Welche „Erzählung“, wie es im PR-Deutsch heißt, soll die Bürger für die SPD einnehmen, wo doch der Kanzler in Brandenburg noch nicht einmal als SPD-Wahlkämpfer erwünscht ist? Das Etikett „Friedenskanzler“ passt längst nicht mehr, selbst wenn Scholz nun für eine völlig unrealistische Friedenskonferenz mit Russland wirbt, weil das seine Partei von ihm erwartet.
Viel Zeit bleibt Scholz nicht mehr, um das Blatt zu wenden. Zehn Monate noch wird Politik gemacht, dann startet der Bundestagswahlkampf. Dieser dürfte ein grenzenlos populistischer Zirkus werden, in dem ein verdruckster Kanzlerkandidat Mühe haben wird, überhaupt aus der Defensive zu kommen.