Jahrestag Ukraine-Krieg Ukrainischer Botschafter im Interview: „Freiheit muss bewaffnet werden“

Eine der großen Baustellen der Regierung in der Ukraine: die Wehrgerechtigkeit. Inzwischen protestieren immer mehr Ehefrauen und
Eine der großen Baustellen der Regierung in der Ukraine: die Wehrgerechtigkeit. Inzwischen protestieren immer mehr Ehefrauen und Mütter dagegen, dass die Männer nach bis zu zwei Jahren an der Front immer noch nicht ausgetauscht sind.

In seiner Heimat sterben täglich Menschen bei russischen Angriffen. Unterdessen wirbt der Botschafter der Ukraine in Berlin bei Politikern, Wirtschaftsbossen und vielen anderen Bürgern um Verständnis und Unterstützung für sein bedrohtes Land. Was er sich von Deutschland wünscht und wie er die Chancen für eine Aussöhnung mit Russland bewertet, darüber sprach Oleksii Makeiev mit Annette Weber.

Herr Botschafter, Ihr Land muss sich seit zwei Jahren gegen einen Angreifer verteidigen. Wir Deutschen dagegen leben in Frieden, der Krieg ist recht weit weg. Was bedeutet das für Sie?
Für mich bedeutet das, jeden Morgen eine Nachricht an meine Mutter zu senden und zu fragen: „Bist du okay?“. Und die Erleichterung zu spüren, wenn eine Antwort kommt, obwohl unsere Städte nachts wieder beschossen wurden. Leider kommt bei vielen Menschen eben kein Lebenszeichen mehr.

Die Deutschen haben, glaube ich, inzwischen begriffen, was bei uns geschieht. Dass die Fernsehbilder von Krieg und Zerstörung grausame Realität sind. Der 24. Februar 2022 war eine Katastrophe mit Ansage. Nur wollten die Menschen und auch die Politiker im Westen die mahnenden Stimmen aus der Ukraine zuvor nicht hören. Wir zahlen nun den Preis.

War der Westen zu naiv oder hat er einfach die Augen vor unangenehmen Wahrheiten verschlossen?
„Wandel durch Handel“, der Leitsatz der Politik seit den 1970er Jahren, funktioniert bei Putin einfach nicht. Davor hat man die Augen verschlossen. Die wirtschaftliche Kooperation mit Russland ging weiter, trotz Annexion der Krim und Besetzung der Ostukraine. Das hat den Kreml in seinem Handeln nur noch bestätigt.

Wie kann man den aggressiver werdenden russischen Desinformationskampagnen begegnen, die es darauf anlegen, die Unterstützung des Westens für die Ukraine zu torpedieren?
Es war wichtig und gut, dass das Auswärtige Amt kürzlich eine der Trollfabriken „entwaffnet“ hat. Aber es würde zu kurz greifen, nur die russische Propaganda dafür verantwortlich zu machen, dass es auch Deutsche gibt, die auf Putins Seite stehen. Da müssen die demokratischen Parteien gegensteuern. Sie müssen sagen, was Sache ist. Es ist beispielsweise kein „Ukraine-Krieg“. Es ist ein russischer Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir wollten das nicht. Wir haben nicht angefangen. Wir sind nicht schuld.

Ich habe den Bundestagsabgeordneten angeboten, mit in ihre Wahlkreise zu gehen und mit den Menschen zu sprechen. Wo das bisher passiert ist, bin ich auf viele Fragen und Ängste, am Ende aber auch auf viel Verständnis gestoßen.

Jede Waffenlieferung, insbesondere aus Deutschland, ist begleitet von schier endlosen Diskussionen. Kann denn irgendjemand in der Ukraine diese zögerliche Haltung verstehen?
Es geht nicht ums Verstehen. Es geht darum, was die Ukraine, ihr Präsident und das Militär brauchen. Meine Aufgabe ist es, das zu vermitteln. Aber in den vergangenen eineinhalb Jahren hat sich in Deutschland viel verändert. Es hat zwar gedauert, aber inzwischen hat man begriffen, dass Flugabwehr und Munition essenziell sind, um sich zu verteidigen. Nicht nur für die ukrainische Armee, auch für die Streitkräfte der EU-Staaten. Wie es Verteidigungsminister Boris Pistorius so richtig sagte, man muss wieder „kriegstüchtig werden“. Denn Freiheit, das müsste jetzt allen klar sein, muss bewaffnet werden.

Sehr dankbar sind wir dafür, dass die Bundeswehr inzwischen fast 10.000 ukrainische Soldaten ausgebildet hat. Trotzdem wäre es gut, die Debatten über das Kriegsgerät, das wir so dringend brauchen, zu verkürzen. Denn Zeit hat die Ukraine keine.

Am 24. Februar 2022 hätte vermutlich niemand gedacht, dass sich Ihr Land zwei Jahre später immer noch im Krieg befindet. Viele Soldaten, die sich damals freiwillig gemeldet haben, sind am Ende und wollen nur noch heim. Das Gesetz, dass die Rekrutierung gerechter machen soll, verzögert sich. Wie geht es weiter?
Gerechtigkeit ist hier das Schlüsselwort. Das neue Wehrgesetz befindet sich jetzt in zweiter Lesung im Parlament, die Änderungswünsche werden debattiert. Wichtig ist aber auch die breite gesellschaftliche Diskussion über die Wehrreform.

Kann denn die Ukraine diesen Krieg noch lange durchhalten? Die Menschen sind inzwischen müde, oder?
Wir haben einfach keine Alternative. Wir wollen nicht unter Besatzung leben. Viele von uns wissen, wie das ist. Sie haben es erlebt. Die Unterdrückung, die Kriegsverbrechen, die die russischen Truppen begangen haben.

Jetzt tauscht Wolodymyr Selenskyj mitten im Krieg die Armeespitze aus. Ist das nicht gefährlich?
Das ist das Recht, ja die Aufgabe des Präsidenten. Und es ist ja nicht so, als ob die neue Führung keine Ahnung hätte. Das sind alles erfahrene Generäle. Unser Land befindet sich nicht erst seit 2022, sondern schon zehn Jahre lang im Krieg. Und unsere Streitkräfte haben großen Rückhalt in der Bevölkerung. Wir Zivilisten wissen, dass die Soldaten ihr Leben aufs Spiel setzen, um uns zu beschützen.

Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken, dass der neue US-Präsident Donald Trump heißen könnte?
Seit Jahren genießt die Ukraine die Unterstützung der USA, sie ist unser wichtigster Partner. Die Amerikaner bewundern unseren Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit. Das sind wichtige Werte für sie. Als Botschafter in Deutschland steht es mir nicht zu spekulieren, was unter einem anderen amerikanischen Präsidenten geschehen könnte.

Nicht nur die US-Wahlen sind ein Unsicherheitsfaktor. Auch die EU ist nicht wirklich berechenbar, weil unter anderem der ungarische Premier Viktor Orban häufig querschießt. Was würden Sie ihm gerne einmal sagen, wenn Sie kein Diplomat wären?
(Lacht) Das kann ich mir nicht vorstellen. Nach 26 Jahren im Beruf ist die Diplomatie quasi Teil meiner DNA geworden.

Aber im Ernst. Europa, das steht für Freiheit und Menschenrechte. Und das einzige europäische Land, dessen Bürger diese Werte mit ihrem Blut verteidigen, ist die Ukraine. Wer das leugnet, handelt unverantwortlich. Wir sind es, die Europa schützen. Und dafür brauchen wir die Unterstützung der westlichen Welt.

Droht nicht auch der andauernde Krieg in Gaza zusätzlich Aufmerksamkeit vom Schicksal der Ukrainer abzuziehen?
Die Frage, ob nicht die Unterstützung, die Aufmerksamkeit schwinden könnte, wird mir schon seit meinem Amtsantritt vor 16 Monaten gestellt. Ich merke nichts davon. Die Solidarität der Deutschen ist groß und stetig und ich bin dankbar dafür.

Sie sind Jahrgang 1975, also in der „alten“ Sowjetunion aufgewachsen. Die Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern waren ja einmal besser. Viele Russen haben zum Beispiel in Kiew studiert und gearbeitet. Gibt es denn Freundschaften, die den Krieg überdauert haben? Wie stehen Sie, ganz persönlich, zu den Russen?
Ich hatte nie einen russischen Freund. Und auch von anderen Freundschaften weiß ich nichts. Im Prinzip versucht uns Russland schon immer zu dominieren. Nicht erst seit 2014 sind wir russischer Aggression ausgesetzt. Ich sehe nicht die im Westen so oft beschworene „schöne russische Seele“. Ich sehe Hass, Überheblichkeit und imperiales Denken. 80 Prozent der russischen Bevölkerung, so Umfragen, befürworten den Krieg und hassen den Westen. Vielleicht gibt es eine Handvoll Russen, die klar sagen, dass ihr Land den Krieg begonnen hat. Russland wird meiner Meinung nach auf Jahrzehnte eine Gefahr für Europa darstellen. Erst wenn die Russen begreifen, was sie angerichtet haben und die Verantwortung dafür übernehmen – so wie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg –, könnte ein Gespräch beginnen.

Sie waren 1990 das erste Mal in Deutschland, also kurz nach der Wende. Was haben Sie von dem Austausch mit nach Hause genommen?
Ich war damals 14 Jahre alt, das war meine erste Auslandsreise. In Münster habe ich mich wohlgefühlt, später habe ich sogar kurz erwogen, dort BWL zu studieren. Damals ist schon eine gewisse Verbindung zu Deutschland entstanden. Kürzlich war ich an die Uni Münster eingeladen, um mit dem Rektor zu reden. So bin ich am Ende dorthin zurückgekehrt.

Zur Person

Oleksii Makeiev

1975 in Kiew geboren, war Oleksii Makeiev 1990 das erste Mal in der Bundesrepublik – in Münster (Westfalen), während eines Schüleraustausches. Makeiev studierte internationale Beziehungen an der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. 1996 trat er in den diplomatischen Dienst ein. Von 2005 bis 2009 war er Botschaftsrat in Berlin, von 2014 bis 2020 Leiter der politischen Abteilung im ukrainischen Außenministerium. Er spricht fließend Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch. Seit Oktober 2022 arbeitet er als Nachfolger von Andrij Melnyk als Botschafter der Ukraine in Deutschland. Makeiev ist verheiratet, seine Tochter studiert in Straßburg.

Botschafter Oleksii Makeiev.
Botschafter Oleksii Makeiev.
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