Politik Koblenzer Schule nahm binnen weniger Monate 100 Flüchtlingskinder auf

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Angekommen!? Die Goethe-Realschule-Plus in Koblenz hat innerhalb weniger Monate um die 100 Flüchtlingskinder ohne Deutschkenntnisse aufnehmen müssen. Eine Herausforderung für Schulleitung, Lehrer und Schüler. Ihre Bilanz nach über einem Jahr fällt indes überwiegend positiv aus. Ein Besuch.

„Guten Morgen, Herr Schmidt“ – die 20 Schüler der Klasse 7 b schreien ihren Morgengruß regelrecht heraus. Kaum ist er verhallt, wird in der einen Ecke des Klassenzimmers geredet, in der anderen rempeln sich zwei Jungs an. „Ruhe jetzt“, ruft Mauricio. Der 13-Jährige ist Sprecher des Klassenrates, der an diesem Morgen auf dem Stundenplan steht. Der Junge mit den italienischen Wurzeln nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Er holt eine Papierbox mit Schlitz vom Regal. Darin stecken die Zettel, auf die die Siebtklässler in den vergangenen Tagen schreiben sollten, was ihnen an ihrer Schule gefällt. Für den Pädagogen Klaus Schmidt ist der wöchentliche Klassenrat eine wichtige Einrichtung. Zum einen können die Jungs und Mädchen in dieser Stunde Probleme ansprechen, es kann Streit geschlichtet werden. Und es ist für diejenigen in der Klasse, die kaum Deutsch sprechen, eine gute Gelegenheit, sich – wenn auch mit wenigen Worten – einzubringen. Von den 20 Schülern der 7 b ist mehr als die Hälfte nicht deutschsprachig. Sie kommen aus Italien, Albanien, Syrien, Kasachstan, Nigeria, Russland und der Türkei. Auch deutschsprachige Schüler haben Schwierigkeiten im Schreiben und Lesen, sagt Schmidt. Mauricio hat die Box geöffnet, zieht das erste Papier heraus. Er gibt es Lorena, dem Mädchen aus Albanien: Stockend liest sie vor: „Ich finde es gut, dass wir jeden Tag Sport haben, viele AGs und mein Freund mir hilft.“ Unterschrieben ist die Aussage von Antonio. Der Junge aus Albanien kann nach eineinhalb Jahren dem Unterricht gut folgen. Für Klaus Schmidt ein Beweis, dass intensive Förderung Früchte tragen kann. „Was gefällt dir an der Schule?“, will der Lehrer von Lorena wissen. Das Mädchen schaut unter sich, schweigt. „Ich finde es gut, dass …“, hilft er ihr auf die Sprünge, Lorena wiederholt: „Ich finde es gut, dass viele AGs …“ Schmidt lässt nicht locker: „Welche AG gefällt dir am besten?“ „Tanzen“, sagt Lorena leise. Die Goethe-Realschule-plus liegt in Koblenz-Lützel, einem Stadtteil, den man als sozialen Brennpunkt bezeichnen kann. Die Lehrer sind es gewohnt, nicht so leistungsstarke Schüler zu unterrichten und zu fördern. Darin sieht Schmidt einen Grund, dass die Lehrkräfte an einem Strang zogen, als innerhalb von kurzer Zeit immer mehr Flüchtlingskinder in der Schule Aufnahme fanden – mehr als 100 der knapp 400 Schüler kamen innerhalb weniger Monate und ohne Deutschkenntnisse. Schulleiter Ralf Marenbach denkt mit gemischten Gefühlen an die Zeit, als vor über einem Jahr täglich sieben bis neun Flüchtlingskinder mit ihren Eltern vor seinem Büro standen. „Wir wurden von der Masse der Schüler überrannt“, sagt Marenbach. Da habe die Hauptaufgabe darin bestanden, Unterricht zu organisieren. Eine Herausforderung. Denn es sei oft schwierig gewesen, den Leistungsstand des jeweiligen Kindes zu erfassen. Einige Neuankömmlinge hätten aufgrund von Krieg oder Vertreibung noch nie eine Schule besucht. Notwendig war vor allem, Deutschunterricht zu organisieren. „Bei uns beginnt die Deutschförderung quasi am ersten Schultag“, erklärt der Schulleiter. Das Flüchtlingskind kommt sofort in seine Regelklasse und besucht vor- und nachmittags stundenweise den intensiven Deutschunterricht. Zwischendurch nimmt es an den Sport- oder Kunststunden in seiner Klasse teil. „Das fördert das soziale Lernen.“ Für Marenbach bieten die nachmittäglichen Arbeitsgemeinschaften – wie Gartenarbeit, Trommeln, Zirkus, Chor, Kochen oder Tanz – gute Gelegenheiten, Sprache spielerisch zu lernen. Bis zu 20 Stunden pro Woche – eine Unterrichtseinheit hat an der Ganztagsschule 60 Minuten – sind für die Sprachförderung vorgesehen und auf ein Jahr begrenzt. Braucht ein Kind darüber hinaus Unterstützung, müsse das für jeden Einzelfall beantragt und begründet werden, bemängelt Marenbach den bürokratischen Aufwand. Damit der Sprachunterricht für alle Schüler je nach Leistungsgrad funktioniert, schloss die Schule Zeitverträge ab. Ein großes Plus ist für den Schulleiter, dass an der Universität Koblenz Lehrer ausgebildet werden. So sei es kein Problem, Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache zu finden. Dann gibt es noch den Verein „Koblenz lernt“: Ehrenamtliche bringen sich mit Sprachförderung und Theaterspiel ein. Was engagierte Lehrer und intensiver Deutschunterricht bewirken können, zeigt sich in der 9 d, einer Klasse ausschließlich mit Flüchtlingen. Schon immer hat die neunte Klassenstufe an der Goethe-Realschule-plus der Berufsorientierung gedient. Dienstag ist Praxistag, das heißt alle Neuntklässler verbringen den Tag in einem Betrieb. Eine Mitarbeiterin – mitfinanziert vom örtlichen Rotary-Club – kümmert sich mit sechs ehrenamtlichen Paten um die Schüler. Sie helfen ihnen, einen Praktikumsplatz zu finden, und sind Ansprechpartner, wenn etwas nicht klappt. Einer der Neuntklässler ist Mohamed. Er kam vor eineinhalb Jahren aus Syrien. Sein Praktikum macht er in einem Betrieb für Automechanik. Sein Bruder hat sich für die Hotelbranche entschieden. Inzwischen weiß der 16-Jährige aber, dass das nicht sein Lebenstraum ist. Sein Ziel ist das zehnte Schuljahr. „Ich will später einmal in einer Bank arbeiten.“ Einer, der es in den Augen der Jugendlichen geschafft hat, ist ein 16-jähriger Afghane. Der schüchterne junge Mann, der als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland kam, macht ein Praktikum in einer Apotheke. „Man hat mir angeboten, dass ich nach meinem Schulabschluss mit einer pharmazeutisch-kaufmännischen Ausbildung beginnen kann“, erzählt er stolz. Doch bei all den Anstrengungen – nicht alle Flüchtlingskinder werden an der Goethe-Schule ihren Abschluss machen können – selbst wenn sie ihn packen würden. Denn bei manchen ist abzusehen, dass sie mit ihren Eltern in die Heimat abgeschoben werden. Das Thema Abschiebungen spricht auch Mauricio im Klassenrat an. Da ist Luna, das Mädchen mit den langen blonden Haaren. Sie kommt aus Albanien, ob sie in Deutschland bleiben kann, ist fraglich. Gleiches gilt für Amarillo. „Ich fände es traurig, wenn meine besten Freunde gehen müssen“, sagt Mauricio nachdenklich. Und für kurze Zeit ist es sehr still in der Klasse. Die Serie Nicht erst der Zuzug vieler Flüchtlinge belegt es: Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland. Wie leben Zuwanderer hier, wie gelingt es, sie zu integrieren? Diesen Fragen geht „Angekommen!?“ nach.

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