Hochwasser-Affäre Anne Spiegel: Rücktrittsforderungen reißen nicht ab
Welche Argumente hat Anne Spiegel zu ihrer Entschuldigung vorgebracht?
Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) hat ihren vierwöchigen Familienurlaub nach der Flutkatastrophe im vergangenen Sommer (14. auf 15. Juli 2021) als Fehler bezeichnet und sich dafür entschuldigt. Sie begründete ihre damalige Entscheidung als Ministerin für Klimaschutz und Umwelt in Rheinland-Pfalz in einem denkwürdigen Auftritt vor Journalisten am Sonntagabend unter anderem mit dem Gesundheitszustand ihres Mannes, der im März 2019 einen Schlaganfall erlitten hatte.
Ihre Familie habe den Urlaub gebraucht, „weil mein Mann nicht mehr konnte“, sagte die 41-Jährige, die sichtlich angeschlagen wirkte und der während des Auftritts mehrfach die Stimme stockte. „Das war ein Fehler, dass wir so lange in Urlaub gefahren sind und ich bitte für diesen Fehler um Entschuldigung.“
Als weitere Begründung gab die Ministerin an, dass Corona für ihre Familie „eine wahnsinnige Herausforderung“ gewesen sei. Die Pandemie habe ihre vier Kinder im Kita- und Grundschulalter „ganz klar mit Spuren versehen“.
Am Wochenende war durch einen Bericht der „Bild am Sonntag“ bekannt geworden, dass die damalige Umweltministerin in Rheinland-Pfalz zehn Tage nach der Flutkatastrophe zu einem vierwöchigen Familienurlaub nach Frankreich aufgebrochen war und diesen nur einmal für einen Ortstermin im Ahrtal unterbrochen hatte.
Welche Ämter hatte Anne Spiegel damals inne? Wie war sie belastet?
Spiegel legte in ihrer emotionalen Erklärung detailliert ihre privaten Beweggründe dar. Sie räumte ein, sich selbst mit einer Häufung von Ämtern überfordert zu haben. Zuerst habe sie sich entschlossen, neben ihrem Amt als Familienministerin in Rheinland-Pfalz die Spitzenkandidatur für die Landtagswahl zu übernehmen. Als Fehler bezeichnete sie, dass sie dann ab Januar 2021 auch noch das Umweltministerium geschäftsführend übernommen habe, mit dem sie dann später mitverantwortlich für die Bewältigung der Flutkatastrophe wurde. „Ich habe diese Aufgabe sehr ernst genommen, und es war zu viel. Das hat uns als Familie über die Grenze gebracht“, räumte Spiegel ein.
Die Entscheidung für den Urlaub sei eine schwere Abwägung zwischen ihrer Verantwortung als Ministerin und der Verantwortung als Mutter mit vier kleinen Kindern gewesen, die nicht gut durch die Corona-Pandemie gekommen seien. Während ihres Urlaubs sei sie immer erreichbar gewesen, habe Telefonate geführt und sich informiert. „Wenn es irgendeinen Anlass gegeben hätte, den Urlaub abzubrechen, dann hätte ich das sofort getan“, sagte Spiegel.
Wie reagierte Spiegel auf Rücktrittsforderungen aus der Opposition?
Zu den Rücktrittsforderungen aus der Opposition äußerte Spiegel sich nicht. Die Beantwortung von Fragen lehnte sie ab. Von ihrer Partei, den Grünen, gab es am Sonntagabend auf Nachfrage zunächst keine Stellungnahme. Am Montag ist der Bundesvorstand der Partei im schleswig-holsteinischen Husum zu einer Klausurtagung zusammengekommen.
„Bild“ berichtete, dass es am Sonntag eine Krisensitzung mit den Grünen-Ministern Robert Habeck, Annalena Baerbock, und den Partei- und Fraktionsvorsitzenden gegeben habe. Dabei sei Spiegel der Rücktritt nahegelegt worden, sie habe aber darum gebeten, noch eine Chance zu bekommen, berichtete das Blatt. Eine Stellungnahme der Grünen zu dem Bericht gab es zunächst nicht.
Die 41-jährige Spiegel und die gleichaltrige Baerbock sind die jüngsten Mitglieder des Kabinetts von Kanzler Olaf Scholz (SPD), das erst vor vier Monaten vereidigt wurde.
Gab es falsche Angaben zur Teilnahme an Kabinettssitzungen?
Die Familienministerin musste am Sonntag Angaben korrigieren, die sie am Samstag gegenüber der „Bild am Sonntag“ gemacht hatte. Anders als ursprünglich mitgeteilt, habe sie sich nicht aus dem Urlaub zu den Kabinettssitzungen zugeschaltet. Die Sitzungen seien zwar in ihrem Kalender verzeichnet gewesen. Eine Überprüfung der Kabinettsprotokolle habe aber am Sonntag ergeben, dass sie nicht teilgenommen habe.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte am Montag in Altenahr, dass sich Spiegel während des Urlaubs von einem ihrer beiden Staatssekretäre vertreten ließ. In dieser Zeit zwischen dem 23. Juli und dem 29. August sei somit auch das Umweltministerium bei den Kabinettssitzungen dabei gewesen. Zu Forderungen nach einem Rücktritt der Bundesfamilienministerin äußerte sie sich nicht und verwies darauf, dass Spiegel nicht mehr in ihrem Kabinett sei.
Anders als sonst in der parlamentarischen Sommerpause habe das Sonderkabinett in Mainz nach der Flutkatastrophe vom 14. Juli erst zweimal, später einmal in der Woche getagt, sagte die Regierungschefin. Ministerinnen und Minister seien für ihren Urlaub nicht auf eine Genehmigung der Staatskanzlei angewiesen, sagte Dreyer. Sie müssten nur ihre Vertretung durch einen Staatssekretär oder eine Staatssekretärin sicherstellen. „Das ist auch erfolgt.“ Dreyer fügte hinzu: „Insofern war sie vertreten im Kabinett.“
Wusste der Landesverband der Grünen von Spiegels Sommerurlaub?
Der Landesverband der Grünen in Rheinland-Pfalz war nach Angaben eines Vorstandsmitglieds über den Sommerurlaub der damaligen Umweltministerin Anne Spiegel informiert. „Der war natürlich allen bekannt“, sagte am Montag der Grünen-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Bernhard Braun, der dem erweiterten Landesvorstand der Partei angehört. Es gebe „keine Geheimurlaube“ von Ministerinnen oder Ministern.
Wer hat Spiegels Rücktritt gefordert?
CDU-Chef Friedrich Merz hatte bereits vor der Erklärung der Familienministerin Spiegels Entlassung gefordert. Mehrere andere Unionspolitiker und der familienpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Martin Reichardt, verlangten Spiegels Rücktritt ebenfalls.
CSU-Generalsekretär Stephan Mayer sagte am Montag im Deutschlandfunk, es stelle sich auch angesichts des Auftritts der Grünen-Politikerin am Sonntagabend die Frage, ob sie ihr Amt als Bundesfamilienministerin noch so ausüben könne, wie es erforderlich sei.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sieht im Streit um den Urlaub von Anne Spiegel einen Glaubwürdigkeitstest für SPD und Grüne. „SPD und Grüne haben sich hier in Nordrhein-Westfalen in der letzten Woche moralisch sehr hoch aufgeschwungen und über Ursula Heinen-Esser gerichtet“, sagte er am Rande eines Termins in Wuppertal. „Die müssen jetzt klarstellen, ob diese Ansprüche unabhängig vom Parteibuch gelten oder nur dem Wahlkampf geschuldet waren.“
Wüst selbst richtete keine Rücktrittsforderungen an Spiegel. Er wolle den Fall nicht weiter kommentieren, sagte er in Wuppertal. Generell müsse es aber möglich sein, „dass auch Menschen mit einer Familie, auch mit kleinen Kindern Politik machen können“, bekräftigte der Vater einer kleinen Tochter. „Ich glaube, wir sind alle gut beraten, dieses Spannungsfeld Familie/Politik nicht übermäßig zu belasten.“ Dabei müssten manchmal allerdings Entscheidungen getroffen werden, die für die Familie belastend seien.
Die Freien Wähler (FW) im rheinland-pfälzischen Landtag sehen die Rücktrittsforderung an die Bundesfamilienministerin im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Ahrtal nach ihrem jüngsten Statement nicht entkräftet. Es stehe nach wie vor im Raum, dass eine wichtige Lageeinschätzung am Vorabend der Flut Einsatzkräfte wie auch den Innenminister und die Ministerpräsidentin nicht erreicht habe, sagte der Obmann der Freien Wähler im Untersuchungsausschuss, Stephan Wefelscheid, am Montag in Mainz. „Dafür trägt Anne Spiegel als damalige Umweltministerin die Verantwortung. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch nicht im Urlaub.“
Wefelscheid: „Hatte Anne Spiegel aus der Ferne noch eine ausreichende Restführungsverantwortung für ihr Haus ausgeübt, oder herrschte dort absolute Führungslosigkeit?“ Dieser Frage werde er nun in den nächsten Wochen im laufenden Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe nachgehen.
Gibt es auch Stimmen aus den Reihen der Grünen?
Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Sven Lehmann (Grüne), verteidigte Spiegel auf Twitter. „Am Beispiel Anne Spiegel wird auch verhandelt, wie menschlich Politik sein darf“, schrieb er. „Politiker*innen sind Menschen. Menschen können Fehler machen oder in harten Abwägungen Entscheidungen treffen, die sie später bereuen. Wer in der Politik keine Maschinen will, bekommt Menschen.“
Was sagt der Bundeskanzler?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit Betroffenheit auf die persönliche Erklärung von Anne Spiegel reagiert. Der Auftritt habe Scholz persönlich bewegt und betroffen gemacht, auch weil sie sich zu vielen privaten Dingen geäußert habe, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann am Montag in Berlin. Es sei ein „menschlich sehr beeindruckender Auftritt“ gewesen, ergänzte sie. Der Kanzler arbeite „eng und vertrauensvoll“ mit Spiegel zusammen, sagte Hoffmann. Die in Rede stehenden Vorgänge beträfen einen Zeitraum vor ihrer Zugehörigkeit zum Bundeskabinett. Zu konkreten Rücktrittsforderungen äußerte sich die Sprecherin nicht.
Was ist der Hintergrund der Affäre?
Bei der Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 sind in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen mehr als 180 Menschen ums Leben gekommen, davon 134 im Ahrtal. Rund 750 Menschen wurden in Rheinland-Pfalz verletzt und große Teile der Infrastruktur sowie Tausende Häuser zerstört. Viele Menschen leben noch immer in Not- oder Ausweichquartieren.
In Nordrhein-Westfalen legte die dortige Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) ihr Amt am Donnerstag nieder, nachdem bekannt geworden war, dass sich die 56-jährige Ministerin wenige Tage nach der Flutkatastrophe auf der Ferieninsel Mallorca für ein Wochenende mit weiteren Regierungsmitgliedern getroffen hatte, um den Geburtstag ihres Mannes zu feiern.