Meinung Russische Aggression: Heute Kiew, morgen wir?

Die Zeitenwende wird Olaf Scholz noch viel Erklärungs- und Überzeugungsleistung abverlangen.
Die Zeitenwende wird Olaf Scholz noch viel Erklärungs- und Überzeugungsleistung abverlangen.

Die verteidigungspolitische Zeitenwende ist ausgerufen, und die Bundesregierung hat auch einen Plan, Deutschland wehrbereit zu machen. Allein: Das Wahlvolk ist längst noch nicht überzeugt.

52 Milliarden Euro schwer ist dieses Jahr der deutsche Wehretat. Daneben sollen der verbliebene Teil des 100-Milliarden-Euro Sondervermögens für die Bundeswehr in Aufträge an die Kriegsindustrie fließen. Das ist enorm viel Geld aus der Sicht einer Bevölkerung, die seit Jahr und Tag von ihren Bürgermeistern und Ortsvorstehern nur das hohe Lied des Sparens vernimmt.

Mit den Etat-Ansätzen für 2024 erreicht Deutschland erstmals seit Anfang der 1990er das Nato-Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu stecken. Bundeskanzler Olaf Scholz hat das auf der Münchner Sicherheitskonferenz unterstrichen: Er hat 2022 im Angesicht des russischen Angriffskriegs eine verteidigungspolitische Zeitenwende ausgerufen. Und er meint Zeitenwende. Scholz versicherte nun, auch im Rest dieses Jahrzehnts und im kommenden Jahrzehnt das Zwei-Prozent-Ziel Jahr für Jahr zu erreichen. Dafür wird es geschätzt 25 bis 30 Milliarden Euro per annum brauchen – und zwar zusätzlich zum ohnehin stark angewachsenen Wehretat. Um noch eins drauf zu setzen: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, aber auch führende Militärs und Regierungschefs anderer EU-Staaten, reden bereits von drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP).

Die Deutschen sind nicht überzeugt

Eine solche Kraftanstrengung kann gelingen – im Kalten Krieg schulterte die Bundesrepublik deutlich höhere Quoten. Aber in einer Wirtschaft mit Nullwachstum wird die Steigerung nur gelingen, wenn Deutschland entweder mehr Schulden macht oder in andere Bereiche weniger investiert. Oder eine Mischung aus beidem. Beides wird unsere ohnehin hochnervöse und in Abstiegsängste verfangene Gesellschaft noch tiefer spalten. Die Zeitenwende wird der Politik noch viel mehr Erklärungs- und Überzeugungsleistung abverlangen.

Kanzler Scholz und fast alle anderen hochrangigen Teilnehmer der Sicherheitskonferenz sind am Wochenende nicht müde geworden, zu betonen, dass Russland seinen völkerrechtswidrigen Krieg nicht gewinnen darf. Und dass Moskau angesichts seiner imperialistischen und revisionistischen Ideologie auf viele Jahre eine Gefahr für den Rest Europas darstellt. Allein: die Deutschen sind gerade von Letzterem mehrheitlich nicht überzeugt.

Um Waffen zu produzieren, braucht es neue Fabriken

Tatsache ist: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht aktuell keine Gefahr eines russischen Angriffs auf die Nato. Boris Pistorius, der deutsche Verteidigungsminister, hält ihn aber für möglich – binnen etwa fünf Jahren. Das Dilemma: Um in 2029/30 wehrbereit zu sein, muss jetzt investiert werden. Es dauert, Panzer zu bauen und Munition zu produzieren. Wir müssen dazu schließlich wieder industrielle Kapazitäten schaffen. Russland hat sie längst. Es schiebt aktuell ein Drittel seines Staatshaushalts in Kriegsfähigkeit.

Das alles ist furchtbar kompliziert, auch wenn die Deutschen wegen des Ukrainekriegs einen Crashkurs in Militärvokabular – von Abrams Panzer über Iris Luftabwehr bis Taurus-Rakete – absolvieren mussten. Berlin täte gut daran, zuerst diese Wahrheit zu vermitteln: Die USA sind schon jetzt überfordert, sowohl China die Stirn zu bieten als auch den Job der Europäer auf dem eigenen Kontinent zu machen. Zudem droht der EU im Fall der Niederlage Kiews eine Migrationskrise ohne Gleichen. Selbst wenn Russland die Nato-Grenzen respektiert – mit Transnistrien droht schon bei den moldawischen Präsidentschaftswahlen im Herbst der nächste Krisenfall. Ganz zu schweigen davon, dass der Kreml Belarus als Aufmarschgebiet, inklusive Atomwaffenrampe, vorbereitet.

Stand heute sind wir nicht bereit für all das. Nicht im mindesten.

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