Leitartikel Nahostkonflikt in der Debatte: Verbale Hochrüstung

Einseitige Schuldzuweisung: Pro-palästinensischers Protestcamp vor dem Bundestag.
Einseitige Schuldzuweisung: Pro-palästinensischers Protestcamp vor dem Bundestag.

Über den Nahostkonflikt zu reden, geschweige denn zu diskutieren, ist derzeit fast unmöglich. Es gibt offenbar nur noch Schwarz oder Weiß. Dabei ist dieses Thema wie kaum ein anderes voller Grautöne.

Wenn man an einem Tag als Palästinenser-Hasserin beschimpft wird und am nächsten als Antisemitin, läuft eindeutig etwas falsch in der Diskussion. Es zeigt, dass beide Seiten keine Argumente mehr hören wollen, dass Fakten einfach ausgeblendet werden. Und noch schlimmer: Es verdeutlicht, dass die Bereitschaft, auch die Rechte des anderen anzuerkennen, sein Leid wahrzunehmen und zu respektieren, völlig abhandengekommen ist.

Das trifft derzeit auf die israelische Gesellschaft und die Araber zu. Und auch auf uns hier in Deutschland. Offenbar fühlen sich immer mehr Menschen veranlasst, unmissverständlich und einseitig Stellung zu beziehen: pro Israel oder pro Palästinenser. Und spätestens dann geraten Fakten, die für die vermeintliche Gegenseite sprechen, völlig aus dem Blick.

Massenflucht der Juden aus Europa

Nüchtern betrachtet lässt sich die Lage in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten grob so zusammenfassen: Den Grundstein des Konfliktes haben Briten und Franzosen schon während des Ersten Weltkrieges gelegt, als sie das Heilige Land Arabern und Juden gleichermaßen versprochen haben. Der sich verstärkende Antisemitismus in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts und die Verbrechen Hitlerdeutschlands haben in den 1930er und 1940er Jahren zur Massenflucht von Juden nach Palästina geführt. Großbritannien als Mandatsmacht hat mit seiner instinktlosen, egoistischen Politik den Konflikt weiter verschärft und 1948 bei seinem Abzug einen Scherbenhaufen hinterlassen. Gleichzeitig haben die arabischen Staaten ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern einen Bärendienst erwiesen, als sie damals den Teilungsplan der UN für Palästina ablehnten – die Juden hatten zugestimmt.

In der Folge griffen die Nachbarn Israel an und umgekehrt. Radikale auf beiden Seiten zertrampelten in erschreckender Eintracht jedes Pflänzchen eines aufkeimenden Friedensprozesses. Die jüdischen Israelis grenzten die Araber aus, ließen sie wirtschaftlich ausbluten, radikale Siedler okkupierten ihr Land. Die Araber wiederum verlegten sich auf Widerstand bis hin zum Terror und versanken in Korruption und Misswirtschaft. Und immer wurde der jeweils andere für alle Missstände und Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht, um vom eigenen Versagen abzulenken.

Terrorüberfall der Hamas

Mit dem Terrorüberfall der Hamas auf israelische Zivilisten, mit den Morden, Folterungen, Vergewaltigungen und Geiselnahmen schaukelte sich der Konflikt um eine weitere Eskalationsstufe nach oben. Israels Armee, die auf Geheiß der Regierung die Hamas ausmerzen will und dabei kaum Rücksicht auf Zivilisten nimmt, setzt sich mehr und mehr ins Unrecht.

Wer kann nach diesen Wirren behaupten, einen alleinig Schuldigen identifizieren zu können? Wer kann nach diesen Gräueln einseitig Partei ergreifen, „die anderen“ im Netz beschimpfen, auf Demos Hassreden halten oder ihnen lauschen? Wer kann jetzt noch „die Palästinenser“ oder „die Juden“ pauschal verurteilen oder anfeinden?

Die Diskussionskultur fehlt

Uns ist – nicht nur bei diesem Thema – offenbar die Diskussionskultur abhanden gekommen. Die Fähigkeit, dem anderen zuzuhören, seine Argumente zuzulassen und auch einmal über sie nachzudenken. Und vor allem der Wille, am Ende gemeinsam nach einem Ausweg aus dem Dilemma zu suchen.

Das alles fehlt in unserem Land. Deshalb wird auch überall gehetzt und gegiftet. Und wenn das zivilisierte Miteinander schon hier, fast 3000 Kilometer weit entfernt vom Konfliktherd, so schwierig ist, wie soll das denn im Nahen Osten gelingen, wo es so gut wie niemanden gibt, der keine Opfer zu beklagen hätte?

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