Politik Leitartikel: Verdienst und Verdruss
Deutschland geht es gut.
Warum gelingt es uns nicht,
uns darüber zu freuen? Die Regierung hat es versäumt, trotz ökonomischer Erfolge die Gefühle der Menschen anzusprechen.
Am kommenden Samstag ist es zehn Jahre her, dass die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz beantragen musste. Der Crash veränderte die Welt, er löste Wirtschaftskrisen in einigen Ländern aus, sorgte für weitere Insolvenzen und eine Staatsschuldenkrise in Europa. Länder verloren den Zugang zu den Finanzmärkten, Banken misstrauten sich untereinander. Weltweit wurden weniger Kredite vergeben, was Firmen am Wachstum hinderte. Statt über Überstunden wurde in Deutschland über Kurzarbeit gesprochen. Hätte im September 2008 jemand gesagt, Deutschland werde zehn Jahre später zum fünften Mal in Folge einen Haushalt ohne neue Schulden vorlegen, er wäre für verrückt erklärt worden. Dennoch ist es so gekommen. Und in Europa ist mit Griechenland das letzte Land an die Finanzmärkte zurückgekehrt. Ein Erfolg. Ein großer Erfolg sogar. In einer Zeit, in der Gegenwart und Zukunft in düsteren Farben gemalt werden, sollte man sich dieser Geschichte erinnern. Die viel gescholtene Politik hat gehandelt, unter Zwang zwar und erst, nachdem die durch entfesselte Spekulationen entstandene Finanzblase geplatzt war. Viele Bürger haben dafür die Rechnung bezahlen müssen oder zahlen sie immer noch durch nahezu null Sparzinsen. Es ist ihr Verdienst, die Krise bewältigt zu haben. Zumindest in Deutschland sind Staatshaushalt und Sozialkassen so gefüllt, dass sie einer erneuten Krise standhalten könnten. Noch nie gab es so viele Menschen in Lohn und Brot. Es sind also positive Nachrichten, die dieses Land zu vermelden hat. Es gäbe gute Gründe, zuversichtlich zu sein. Doch man hat den Eindruck, dass nur die wenigsten Menschen tatsächlich zuversichtlich sind. Die Menschen ängstigen sich vor den globalen Entwicklungen, vor Autokraten, unberechenbaren Präsidenten, vor Überfremdung und dem Verlust ihrer ideellen Heimat. Sie suchen Halt. An dieser Stelle kommt die Bundesregierung ins Spiel. Leider gelingt es ihr nicht, Optimismus zu verbreiten. Das liegt zum einen daran, dass die Beteiligten der großen Koalition eine Art Zwangsehe eingegangen sind, die sie nicht glücklich macht. Nicht einmal in der eigenen Parteifamilie – siehe CDU/CSU – herrscht Einvernehmen. Es liegt zum anderen aber auch daran, dass die Regierung es versäumt hat, trotz ökonomischer Erfolge die Gefühle der Menschen anzusprechen. Kanzlerin Angela Merkel wurde jahrelang wegen ihrer abgeklärten Art wenn nicht geliebt so doch respektiert. Heute wird sie kritisiert, weil sie wenig empathisch ist und den Sorgen der Bürger gegenüber kein Verständnis aufzubringen scheint. Denjenigen, die nicht vom Aufschwung profitieren konnten, die mehrere Jobs erledigen müssen, um über die Runden zu kommen, die nicht die Preise bezahlen können, die in Ballungsräumen für Mietwohnungen verlangt werden, begegnet sie mit der Nüchternheit der Physikerin. Doch bei Merkel alle Schuld abzuladen, wäre ungerecht. Es sind auch Angstmacher unterwegs, die in kaltem Kalkül auf dem Rücken von Migranten Stimmung erzeugen. Sie sind die Meister der Verallgemeinerung, sie schaffen es, Einzelfälle zur nationalen Krise zu erheben. Sie suggerieren, dass sie das Volk sind, obwohl sie eine Minderheit darstellen. Wer so agiert, ist weder demokratisch noch christlich. Wenn die Deutschen aber den Angstmachern das Feld überließen, würde sich das Land spalten. Und das wäre schlimmer als jede Finanzkrise dieser Welt.