Politik Leitartikel: Das Symbol Burka

Wer findet Vollverschleierung gut? Nur eine verschwindend kleine Minderheit. Aber der Ruf nach dem Burka-Verbot ist Ausdruck einer viel tiefer sitzenden Verunsicherung. Politik findet keine Sprache, diese neuen gesellschaftlichen Gefühlswelten zu erreichen.

Die Burka. Vielleicht geht es im Kern ja gar nicht darum, dass dieses irritierende Kleidungsstück nicht passt in einer Gesellschaft, „deren Grundverständnis“, wie CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn schreibt, „auf Öffentlichkeit und Offenheit, auf Deliberation, auf Austausch, Beratung, Teilhabe am öffentlichen Leben“ beruht. Und vielleicht geht es manchem gar nicht so sehr um das mittelalterliche Frauenbild, das der Baumwollvorhang dem westlichen Betrachter so radikal aufbürdet. Es wundert jedenfalls, wer da gelegentlich im Namen des Feminismus mannhaft für ein Burka-Verbot streitet. Egal. Vielleicht geht es im Kern um etwas anderes. Die Welt wird, mindestens gefühlt, immer unübersichtlicher. Sie dreht sich schneller. Sie entgrenzt sich. Sie wird mobiler. Sie wird digital und gleichzeitig. Sie wird komplexer. Zugleich schleift sie alte Schutzräume. Sie entsorgt Gewissheiten. Sie durchkreuzt tradierte Lebensgefühle. Sie lässt Geborgenheit immer weniger zu. Die Globalisierung konfrontiert mit Fremdem und manchmal auch Befremdlichem. Sie verlangt Neuorientierung – und zwar schnell. Das überfordert Menschen. Viele spüren Kontrollverlust. Sie haben Abstiegsängste. Sie fühlen sich entfremdet von ihrem eigenen Leben in ihrem eigenen Land. Und viele haben das Gefühl, wenngleich manchmal mit einer gehörigen Portion Wehleidigkeit untermalt, dagegen nichts unternehmen zu können. Dazu passt eine Umfrage. 41 Prozent der Bürger unterstreichen den Satz: „Früher war alles besser.“ Vor eineinhalb Jahren waren nur 26 Prozent dieser Auffassung. Gleichzeitig sind immer weniger Bürger bereit, sich über die Bedingungen, die ihr Leben prägen, zu informieren und sich fundiert mit ihnen auseinanderzusetzen. Gut möglich also, dass der Ruf nach dem Burka-Verbot eigentlich der Schrei ist: „Wir haben die Schnauze voll! Es reicht!“ Es ist der laute Protest: „Genug der Veränderung, genug der Entfremdung!“ Die Burka eignet sich trefflich für diese emotionale Aufwallung. Denn sie ist ein sichtbares Zeichen für das Irritierende. Sie steht stellvertretend für alles, was in unsere Welt gekommen ist und so gar nicht passt. Politik gestaltet Lebensbedingungen. Also muss Politik mit den schwierigen Gefühlswelten der Bürger umgehen. Wie tut sie das? Zugegeben, die folgende Aufzählung ist eine Überspitzung: Jens Spahn will die Burka verbieten. Aber würde ein Verbot das Entfremdungsgefühl grundlegend verändern? Julia Klöckner moniert, Großunternehmen stellten kaum Flüchtlinge ein. Aber warum sollten sie, wenn notwendige Qualifikationen fehlen? Sigmar Gabriel fordert nach der EU-Austrittsentscheidung der Briten neue Investitionspakete für Südeuropa. Aber fehlt es Brüssel wirklich an Geld und Willen für europäische Entwicklung? Das sind politische Übersprunghandlungen, das ist bestenfalls wohlfeile Symbolpolitik. Politik findet keine Sprache, diese neuen gesellschaftlichen Gefühlswelten zu erreichen. Wie auch, wenn jemand wie die Kanzlerin Politik betreibt, als müssten die Aktenstapel auf dem Schreibtisch abgearbeitet werden. Wer in Berlin vermittelt dem Bürger ein Sicherheitsgefühl, wer nimmt ihm die Abstiegsangst, wer reagiert einfühlend auf die Irritation über das Fremde und den Kontrollverlust? Wer ordnet dem Bürger das Unüberschaubare? Man muss suchen. Übrigens: Nicht nur die Politik ist dazu derzeit nicht in der Lage. Viele gesellschaftliche Gruppen sind es auch nicht, die Medien inklusive.

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