Politik Ein Volk im Rausch

Kurz nach der Annexion der Krim erhält das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine zusätzliche Dimension. Dies fällt aber nur den wenigsten Russen auf.

Der Jubel ist echt und allgemein. Grenzenlos. Wildfremde liegen einander in den Armen, viele haben Tränen in den Augen. Wären da nicht die Schwarzweiß-Bilder, die gerade mühsam das Laufen lernen, die Waffen eines längst vergangenen Zeitalters und die veralteten Uniformen der Zaren-Armee, würde der pompös inszenierte Dokumentarfilm zum Ersten Weltkrieg, der kürzlich im russischen Staatsfernsehen Premiere hatte, glattweg als Reportage über die Annexion der Krim durchgehen. Diese bestürzenden Parallelen hatten die Macher offenbar nicht beabsichtigt: Als der Monumentalschinken gedreht wurde, herrschte noch Kalter Frieden mit Kleinrussland, wie national gesinnte russische Historiographen die Ukraine gern bezeichnen. Inzwischen stehen Moskau und Kiew am Rande eines Bruderkrieges. Der Jubel bei der Verabschiedung russischer Soldaten an die Front erzeugte ein Déjà-vu-Gefühl. Jene, die sich derzeit unwohl fühlen, sind in Russland jedoch eine Minderheit. Die üblichen Bedenkenträger: Künstler, Intellektuelle und Aktivisten der von Putin per Gesetz als „ausländische Agenten“ diffamierten Zivilgesellschaft. Die überwältigende Mehrheit befindet sich – seit die Krim wieder da ist, wo sie nach Meinung der meisten Russen hingehört – im kollektiven Rausch. Wie im Sommer 1914. Nicht ahnend, dass der Krieg, dessen Beginn viele sogar entgegenfieberten, später „Weltkrieg“ genannt werden würde. Imperien wie das Osmanische Reich oder die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verschwanden damals völlig von der Landkarte. Schlimm traf es auch Russland. Die militärische Niederlage führte zur Revolution, diese zu Bürger- und Interventionskriegen und letztendlich zu einem Großfeldversuch mit Millionen Toten zu Friedenszeiten, der sich nach gut 70 Jahren als gescheitert auf die Müllkippe der Geschichte verabschiedete: die Sowjetunion, der angeblich „unverbrüchliche Bund freier Völker, die das mächtige Russland auf ewig zusammenschweißte“, wie es im Text der sowjetischen Nationalhymne hieß. Deren Melodie ließ Präsident Wladimir Putin schon kurz nach seinem Machtantritt vor 14 Jahren recyceln; den Untergang der Sowjetunion bezeichnet er als eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Westliche Historiker, Politiker und Medien bemühen vor allem Ereignisse im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs, wenn sie Parallelen zur Krise um die Ukraine ziehen. Österreichs Rückkehr „heim ins Reich“ etwa oder den „Anschluss“ des Sudetenlands. Durch die Raster fällt dabei, dass es auch Parallelen zu der unruhevollen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gibt. Das Osmanische Reich war damals ähnlich schwach wie heute die Ukraine. Russland und die westeuropäischen Großmächte balgten sich in wechselnden Allianzen um den Einfluss auf dessen „Spaltprodukte“ – vor allem auf dem Balkan. Und dort genügte, weil keiner mit dem zufrieden war, was er bei den Verteilungskämpfen abgegriffen hatte, im Sommer 1914 ein relativ banaler Anlass, um die Situation eskalieren zu lassen. Noch bevor die Schüsse in Sarajewo fielen, hatte Lenin in seiner „Kritik des Imperialismus“ gewarnt, dass es genauso kommen würde. Das Werk war Pflichtlektüre für die politische Bildung der „Werktätigen“ in der Sowjetunion und ist das einzige des Revolutionsführers, dem auch die moderne russische Forschung eine gewisse Daseinsberechtigung attestiert. Über die Ursachen des Ersten Weltkriegs herrscht weitgehend Einigkeit. Uneins ist man sich jedoch über die Ergebnisse. Gestritten und gefachsimpelt wird nicht nur auf Kongressen. Auch am Abendbrottisch in der Küche daheim oder nach dem Angeln. Denn die Russen – darunter auch viele einfache Menschen – interessieren sich für ihre Geschichte sehr viel mehr als die Deutschen. Das Problem dabei: Nicht alles, was sie für wahr halten, ist es auch. Ob Erster Weltkrieg, Oktoberrevolution, Bürgerkrieg oder Zweiter Weltkrieg. Zu Sowjetzeiten schrieben Propagandisten im Auftrag von Vater Staat und Mutter Partei die Geschichte mehrfach um. Mühsam wie bei der Restauration mittelalterlicher Ikonen bemühen sich Historiker im postkommunistischen Russland darum, eine „Kulturschicht“ von Mythen und Halbwahrheiten nach der anderen abzutragen. Was sie dabei zutage fördern, gefällt nicht allen. Die einen sehen ihre eigene Lebensleistung oder die ihrer Eltern und Großeltern entwertet, wenn die Oktoberrevolution als Putsch und die Sowjetunion als menschenverachtender Unrechtsstaat porträtiert wird. Andere stoßen sich daran, dass Zar Nikolaus II., den nicht zuletzt Russlands Niederlagen im Ersten Weltkrieg im Februar 1917 zum Thronverzicht zwangen, dabei schlecht wegkommt. Der Herrscher und seine Familie, die 1918 von den Kommunisten erschossen wurden, gelten vielen als Heilige. Von zentralen Gedenkveranstaltungen anlässlich des Beginns des Ersten Weltkrieges ist bisher nichts bekannt. Unter Anleitung des Kultusministeriums sollen sich vor allem die Akademie der Wissenschaften und der Stiftung für patriotische Erziehung mit der Würdigung des düsteren Jubiläums abplagen. Beide setzen dabei auf Altbewährtes: Schlachtendenkmäler und Schriftsätze. Einziges Highlight: In der einstigen Zarenresidenz bei St. Petersburg wird ein Museum des Ersten Weltkriegs eröffnet. Und wer weiß, vielleicht kommt dann sogar Präsident Wladimir Putin.

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