Speyer „Von Sehnsüchten getrieben“

„Zwei Stunden Düsternis“ brachte der 1949 in Hamburg geborene Sänger laut damaligem RHEINPFALZ-Konzertbericht in die Halle. Witts apokalyptischer Auftritt „zwischen Nosferatu und Mephistopheles“ habe tiefste Seelenkrater ausgeleuchtet und sie mit bizarrer, hochemotionaler Poesie in Worte umgewandelt. Angekündigt von Nebelschwaden in allen Ecken, zuckenden Lichterblitzen und sphärischen Synthieklängen kam Witt im langen schwarzen Frack auf die Bühne und eröffnete sein Programm mit dem Song „Das geht tief“. Die teils vom Drumcomputer, teils live erzeugten Beats hämmerten zu starken Gitarrenriffs, schwebenden Klangteppichen und wummernden Bässen. Dazu lieferte der damals 49-Jährige eine Performance mit „unheimlich roboterartiger Choreografie“. Meist nur Hände und Gesicht grell angestrahlt, sprach er seine Ansagen und Texte mal grollend, mal gequält und immer mit rollendem R. Der Hamburger, von Haus aus Musiker und Schauspieler, lebte seine Vorliebe für theatralische und kontroverse Inszenierungen voll aus. Unverkennbar orientierte er sich – wie auch im Anfang 1998 veröffentlichten Stück „Die Flut“, das für ihn und den Sänger der Gruppe Wolfsheim, Peter Heppner, einen Platz zwei in der deutschen Hitparade bedeutete – an der Ästhetik von Rammstein. Entsprechend hatten öffentliche Vorwürfe der Verherrlichung von Totalitarismus nicht lange auf sich warten lassen. Im Konzert jedoch herrschte laut Bericht „unpolitische Endzeitstimmung“ vor. Das Publikum bejubelte Witt, nicht zuletzt für dessen damals aktuelle Single „Und ich lauf’“. Der Musiker selbst brach schließlich die dämonische Attitüde mit dem vor der Zugabe geäußerten Satz: „Ich komm’ gleich wieder, ich muss mir die Unterhose richten.“ Nur den „Goldenen Reiter“ mussten die Zuschauer selbst singen. Mit diesem Song über einen an Schizophrenie Erkrankten war Witt nach einigen Jahren in der Rockgruppe Düsenberg 1982 schlagartig zu einem der populärsten Künstler der Neuen Deutschen Welle geworden. „Ich habe damals das Ding gemacht, das ich wichtig fand, und habe mich dabei wohl gefühlt“, sagte er später rückblickend über diese Zeit. Passend zum Songtext „Ich war so hoch auf der Leiter, doch dann fiel ich ab“ war Witt allerdings auch recht schnell wieder vom Radar der Öffentlichkeit verschwunden. Nach langen Jahren mit Rückschlägen und künstlerischer Tätigkeit ohne große Wertschätzung hatte er sich schließlich in den 90er Jahren dem damaligen Konzept der „Neuen Deutschen Härte“ zugewandt. „Die Flut“ entwickelte sich zu einem der größten kommerziellen Erfolge dieser Stilrichtung. „Das bin eben ich: als Mensch getrieben von seinen Sehnsüchten“, erklärte er seinerzeit. Patriotismus sei ihm ziemlich fremd, betonte er. Aber er wolle etwas schaffen, das aus seinem eigenen Kulturkreis komme. Er mache schlicht die Musik, die seiner Mentalität entspreche. In diesem Zusammenhang verwies der Hamburger auf die großen deutschen Romantiker, in deren Tradition er sich sehe. Vor sechs Jahren löste Witt mit seiner Musik erneut eine öffentliche Auseinandersetzung aus: Im Video zu seinem Lied „Gloria“ sind Männer in Bundeswehruniformen zu sehen, die eine Frau vergewaltigen. Die damalige Bundesregierung erwog, das Video auf den Index setzen zu lassen, entschied sich dann aber doch dagegen. Witt selbst sprach von Bedrohungen und Beleidigungen ihm gegenüber auf Facebook. Zugleich zeigte er sich überrascht von der Form des Protestes. „Wir haben den Kunstbegriff sehr weit ausgedehnt. Aber dafür ist Kunst ja auch da“, sagte Witt. Die Befindlichkeiten einzelner Soldaten bewertete er in diesem Zusammenhang als „bedeutungslos“. Er habe recherchiert und über Bundeswehrsoldaten „jährlich rund 80 Fälle von sexuellen Übergriffen, zum Teil Vergewaltigungen“ herausgefunden. Nachdem Witt im vergangenen Jahr als Xavier Naidoos Gast in der Fernsehsendung „Xaviers Wunschkonzert“ mit seiner Version von Lana Del Reys „Summertime Sadness“ überrascht hatte, veröffentlichte er im Februar eine Neuaufnahme des Falco-Hits „Jeanny“ – und blieb seinem Sinn fürs Kontroverse damit einmal mehr treu. Im April und Mai geht er mit Songs seines aktuellen Albums „Thron“ wieder auf Tournee. Kontakt —Jetzt sind Sie gefragt, liebe Leser: Waren Sie bei diesem Konzert dabei? Verbinden Sie eine Erinnerung mit Joachim Witt? Und wer sollte Ihrer Meinung nach unbedingt einmal (oder vielleicht auch noch einmal) in Speyer auftreten? —Schreiben Sie uns doch mal unter der E-Mail-Adresse redspe@rheinpfalz.de unter dem Betreff „Rock’n’Roll“ oder auf Facebook. Die spannendsten Beiträge greifen wir im Laufe unserer Serie auf.

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