Kreis Germersheim Mitte der 1920er Jahre richtet sich Kandel politisch neu aus
«Kandel.»Im September wird der Bundestag gewählt. Maßgebend ist die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Verhältniswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Es prägte auch das politische Gesicht der Bienwaldgemeinde Kandel.
Im Juni 1925 wohnten in Kandel 4000 Menschen. Zwei Drittel waren protestantisch, die übrigen katholisch. In der größten Kommune des Bezirks Germersheim befanden sich zentrale Verkehrseinrichtungen, Verwaltungs-, Forst- und Gerichtsbehörden. Fast jeder dritte Erwerbstätige lebte von der Land-/Forstwirtschaft. Das Gros gehörte zum existenziell gefährdeten Kleinbauerntum. Handwerker, landwirtschaftliche und Industriearbeiter bildeten ein weiteres Drittel der Beschäftigten. Manchen boten die Pfälzische Geschäftsbücherfabrik Just und die Schuhfabrik Sommer mäßigen Verdienst. Viele Arbeiter mussten jedoch auspendeln. Mit jeweils 11 Prozent hatten Handel/Verkehr und der öffentliche Dienst einen für ländliche Regionen beachtlichen Umfang. Diese soziale Bandbreite begünstigte die Zersplitterung der Voten bei Landtags- und Reichstagswahlen. 1928/32 wurde für 15 Parteien gestimmt. Ende 1918 belebte das neue Verhältniswahlrecht die politische Szenerie. Es beteiligte die Frauen und die 20-Jährigen. Jetzt durften 2140 Einheimische zur Wahlurne gehen, 122 Prozent mehr als 1912. Bereits vor 1914 hatten feste Ortsvereine die für kürzere Agitations- und Wahlkampagnen fallweise formierten Parteikomitees ersetzt. Kandels nationalliberaler „Kantonal“-Ausschuss betreute nun ständig die Gesinnungsfreunde in der Umgebung, begleitet von Vorträgen „berufener Männer“. Ihm half ab 1907 der Jungliberale Verein unter Schulleiter Georg Klippel. Verankert im agrarbürgerlich-protestantischen Milieu gaben die mit einflussreichen Honoratioren und Geschäftsleuten eng verbundenen Liberalen auch nach Kriegsende den Ton an. Obwohl parteipolitisch weiterhin getrennt, errangen sie noch 1924 gut die Hälfte der Stimmen: 1921 zählte die vom Ingenieur Philipp Kippenhahn geführte rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) 107 Mitglieder. Der Demokratische Verein, Ableger der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), brachte es zur selben Zeit unter dem Landwirt August Jung auf 68 Personen. Die katholischen Parteien schärften ebenfalls ihr lokales Profil, gepaart mit der traditionellen Unterstützung durch den Klerus und das kirchliche Vereinswesen: August Huber (1924) und der Postbeamte Philipp Cambeis (1930) leiteten die kleine Zentrumsvereinigung. Offensichtlich besaß die Filiale der 1919 entstandenen rechtskatholischen Bayerischen Volkspartei (BVP) erheblich mehr Mitglieder. 1928 sandte sie den Eisenwarenhändler August Baron in den Vorstand des BVP-Kreises Kandel (Südhälfte des Bezirks Germersheim). Seit Juni 1905 repräsentierte der SPD-Ortsverein das dritte politische Lager der liberal grundierten Gemeinde. Er hatte zwischen 70 (Februar 1921) und 44 Personen (Dezember 1926). Als Vorstand amtierte 1921 der Fabrikarbeiter Karl Schnorr. Gegenläufig zur Organisationsentwicklung lag die Wahlbeteiligung bis 1932 unter der von Reich, Land und Bezirk. Wahlabstinenz und permanente Parteiaktivitäten bildeten die Pole des politischen Handlungsraums. Wirkung zeigten ferner die lange über 1918/19 hinaus angespannten Lebensverhältnisse. Versorgungsnot, Arbeitslosigkeit, Inflation und französische Besatzung betrafen indes alle Einwohner. Die Zurückhaltung bei Staatswahlen spiegelte vielmehr die verbreitete Distanz gegenüber Republik und Demokratie, denen die Nachkriegsmisere gern angekreidet wurde. Anfang 1919 bescherte die Friedensdividende der SPD ein Rekordhoch von 33.5 Prozent. Dann sanken sie auf ein Viertel, ab 1932 auf ein Fünftel der Stimmen – trotz leichten Zulaufs. Unter dem Mittelwert der Pfalz, doch klar über dem des Bezirks, galt Kandel als regional wichtiger SPD-Rückhalt. Dagegen dümpelten die Kommunisten zwischen 0,5 und 2 Prozent. Im Frühjahr 1932 sagten sie eine Versammlung wegen Desinteresses ab. Der krisen- wie protestbedingte Erfolg von 5,6 Prozent (November 1932) blieb Episode. 19 (1919) bis 26 Prozent (1928) der Wähler, durchschnittlich etwa 22 Prozent, bevorzugten Zentrum und BVP. Beide Parteien verdankten ihre Stabilität der religiösen Bindung der konfessionellen Minderheit. Dennoch verweigerte sich jeder dritte Glaubensgenosse dem katholischen Lager, das von der übermächtigen BVP dominiert wurde. Zunächst konnten die Liberalen ihre Vorkriegs-Hegemonie fortsetzen. Bald aber zeigte die Kurve nach unten. Mit 13,1 Prozent gestartet, halbierte sich die linksliberale DDP schon 1924. 1930/32 verschwand sie mit einem halben Dutzend Wählern von der Bildfläche. Zeitversetzt ereilte die DVP dasselbe Schicksal: Ideell ausgezehrt und unfähig, ihren auseinanderstrebenden Anhang zu halten, stürzte sie von 44,6 (Dezember 1924) auf 0,6 Prozent (1933). Mitte der 1920er Jahre richtete sich Kandel politisch neu aus. So erlebten verschiedene Splitter- und Interessenparteien eine kurze Blüte: Die Wirtschaftspartei des Deutschen Mittelstandes gewann 3,3 Prozent (1928), die Christlich-nationale Bauern- und Landvolkpartei 1,3 (1930) und der evangelische Christlich-Soziale Volksdienst sogar 5,2 (1930). Er schrumpfte 1932/33 auf 0,7 Prozent. 1924 erstmals angetreten, stagnierte die konservative Deutschnationale Volkspartei bei einem guten Prozent. Ausnahme: 1928 machten Scharen früherer DVP-Wähler auf dem Weg nach rechts bei ihr Station und sorgten für 12,2 Prozent. Weltwirtschaftskrise und Massenelend verstärkten ab 1929 die Rechtsdrift und damit den steilen Aufstieg der Nationalsozialisten. Ihre brachiale Selbstinszenierung als junge, unverbrauchte Bewegung und Keimzelle der künftigen Volksgemeinschaft fand Anklang. Radikalisierte Zeitgenossen, oft honorigen Zuschnitts, folgten dem Führerkult, dem militanten Nationalismus und rassistisch-antidemokratischen Gedankengut. Den für 15. November 1931 in Kandel angekündigten Auftritt des NSDAP-Gauleiters Josef Bürckel hatte das Bezirksamt verboten. Doch waren die Weichen längst gestellt: Seit dem 9. November 1927, dem 4. Jahrestag des Hitler-Putsches, existierte dort eine schnell wachsende NSDAP-Ortsgruppe. Ihr fanatischer Mentor war der 1926/30 in Schaidt lebende Forstangestellte und Mitputschist Wilfried Lämmel. 1929/32 leitete sie der Minfelder Forstaufseher und spätere NS-Kreisleiter Karl Guckert. Am Sitz der NS-Kreisleitung (Mai 1932-April 1935) nahmen Kandels NSDAP und SA Vorzeigefunktion und -aufgaben wahr. Das belegt der Wahlerfolg: 1928 knüpften die Nationalsozialisten ergebnisgleich an das „völkische“ Potenzial von 1924 an. 1930 steigerten sie sich von 3.5 auf 26,8 Prozent. Damit lagen sie 1,3 Prozent hinter der führenden SPD, aber satte 5,1 Prozent vor Zentrum und BVP. Bei der Reichspräsidentenwahl votierten im April 1932 46 Prozent der Kandeler für Adolf Hitler, 9,3 Prozent mehr als im Bezirk Germersheim. Dreimal trennte im selben Jahr eine Handvoll Stimmen die NSDAP von der absoluten Mehrheit am Ort. 1933 errang sie 54,7 Prozent und machte die Gemeinde auch formell zur „braunen Hochburg“. Andersdenkende standen fortan schutzlos im politischen Abseits – als Zeugen einer binnen Wochen pseudolegal wie gewaltsam errichteten totalitären Diktatur. Lese-Tipp —Der Autor hat Bellheims Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. —Bestellung: VHS Germersheim, 07274 53-319, k.traeber@kreis-germersheim.de