Kultur Toxische Frau

„In der Geschichte von Stella Goldschlag liegen Terror und Schönheit so nah beieinander wie selten“: Autor Takis Würger.
»In der Geschichte von Stella Goldschlag liegen Terror und Schönheit so nah beieinander wie selten«: Autor Takis Würger.

Der Ruf von „Spiegel“-Reportern ist gut gerade. Als Geschichtenerzähler. „Spiegel“-Reporter Takis Würger aber hat ungebetene Werbung nicht nötig. Das 2017 erschienene Debüt des 33-Jährigen, der Campus-Box-Entwicklungsroman-Krimi „Der Club“, war ein Bestseller, 90.000 Mal verkauft. Und auf dem Buchrücken seines neuen Buches, das heute erscheint, prangt eine Kurz-Hymne von Daniel Kehlmann. Der Roman „Stella“ mischt Fakten mit Fiktion. Erzählt wird eine teilwahre Geschichte über die jüdische Gestapo-Helferin Stella Goldschlag, die ihre eigenen Leute verriet.

Ein steil gruseliges Thema. „In der Geschichte von Stella Goldschlag liegen Terror und Schönheit so nah beieinander wie selten“, raunt Takis Würger in einem Vorbericht der „Bild“-Zeitung (!) diese Woche. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass die Kollaborateurin, die die herkömmliche Opfer-Täter-Dichotomie durcheinanderbringt, Thema ist. US-Autor Peter Wyden, ein jüdischer Emigrant, widmete seiner still verehrten früheren Mitschülerin ein Recherchebuch, „Stella“, erst in den USA erschienen, auf Deutsch bei Steidl 1993. Im „Spiegel“ schrieb Wyden unter der Überschrift „Ein Tabu der Holocaust-Forschung“ ihr Porträt. Und 2017 kam das Doku-Drama „Die Unsichtbaren“ über in der Nazizeit untergetauchte Berliner Juden ins Kino, bei dem Stella Goldschlag als verhasste sogenannte Greiferin eine Rolle spielt. Vergangenes Jahr wurde in der Berliner Brotfabrik Gail Louws Ein-Personen-Theaterstück „Blonde Poison“ uraufgeführt, Inhalt: sie. Man kann historische Fotos des „blonden Gifts“ googeln. Außerdem liegen Prozessakten vor, verwahrt im Landesarchiv Berlin. Goldschlag, Jüdin, Tochter eines Journalisten und Musikers und einer Konzertsängerin, wurde 1946 von einem sowjetischen Militärtribunal zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Wegen ihrer – auch nach der Deportation ihrer Eltern und ihres jüdischen Lebensgefährten, mit deren möglicher Freilassung sie erpresst worden ist – bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs mit großer Perfidie fortgeführte Spitzeltätigkeit für die Gestapo. Sogar bei Beerdigungen spürte sie untergetauchte Juden auf. Immer wieder unterbricht Takis Würger in seinem Roman über eine Liaison dangereuse den Fluss mit kursiv gesetzten, realen, sie belastenden Zeugenaussagen. Am Anfang sind sie Fremdkörper. Zum Schluss indes fallen Erzählung und Aktenlage schon in eins. Stella Kübler-Isaaksohn, wie sie sich später nannte, war fünf Mal verheiratet, was im Epilog des Romans erzählt wird, eine blonde Frau mit blauen Augen. Eine weitere Verurteilung zu zehn Jahren Zuchthaus, 1957, wegen Beihilfe zum Mord und Freiheitsberaubung mit Todesfolge in einer unbekannten Zahl von Fällen, zwischen 600 und mehreren tausend wird vermutet, musste Goldschlag aufgrund der bereits verbüßten Haft nicht antreten. 1994, 72 Jahre alt, nahm sie sich in Freiburg, wohin sie aus Berlin gezogen war, das Leben. „Welche Schuld messen Sie sich nun selbst zu in Anbetracht Ihres abgelegten Geständnisses?“, wurde sie laut einem Protokoll 1946 im Kriminalkommissariat Berlin gefragt, Würger zitiert es. Ihre Antwort: „Die einzigste Schuld und das einzigste Verbrechen, welches ich begangen habe, das war, dass ich mich als Jüdin in einen Außendienst der Gestapo stellen ließ. Ich bemerke aber, dass ohne mein eigenes Wollen ich zu diesem Gestapodienst kam.“ Erzählt wird ihre Geschichte entlang eines Kitschrands und mit etwas pathetischer Lakonie. Und aus der retrospektiven Ich-Perspektive. Mit viel – ganz Reporterschule – bis in die Litfaßsäulensprüche authentischem Zeitkolorit und glanzvoll beherrschten Verfahren des Storytellings: genaue Beobachtung, präzise Motivwahl, knackige Dialoge, ein Spannungsaufbau, bei dem zum Schluss alles en detail aufgeht. Kniffe, die im Journalismus mit dem Fälscher-Reporter Claas Relotius gerade in Verruf geraten. Als Literatur bleiben sie legitim. Und bei Würger funktionieren sie prächtig. Die erzählende Hauptfigur Friedrich jedenfalls ist Schweizer, den in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs eine Liebesgeschichte mit Stella verbindet. Im Roman nennt sie sich ihm gegenüber Kristin. Friedrich ist ein trotz schwieriger Kindheit arg unbedarfter Sohn eines feinnervig-kultivierten Samt-Importeurs. Seine Mutter: eine versoffene, verhinderte Malerin und bekennende Antisemitin, Tochter eines deutschen Großgrundbesitzers, die sich rühmt, dass die Führungsriege der Schwarzen Reichswehr zur Beerdigung ihres Herrn Vaters gekommen sei. Eine Herrenreiterin. Friedrich dagegen ist die ideale Projektionsfläche, auf der sich „das blonde Gespenst der Gestapo“, Stella Goldschlag, spiegeln kann. Voller Sanftmut und beinahe trotteliger Herzenswärme, seine Wahrheitsliebe schlägt ihm im Wortsinn früh Narben. Zusammen mit einem Dutzend anderer Jungs hatte er als Kind Schneebälle auf einen Kutscher geworfen – und ihn getroffen. Freimütig gesteht er. Der Vater hatte ihm den hellsichtigen Satz gesagt, die Wahrheit sei ein Zeichen der Liebe. Der Kutscher zieht ihm stattdessen ein Ambosshorn über. Eine lange Narbe prangt jetzt in Friedrichs Gesicht. Auch kann er nur noch Schwarzweiß sehen, eigentlich. Aber er lernt – hochsymbolisch - unter den gestrengen Fittichen seiner Mutter, die ihn zum Künstler erziehen will, die Farben ersatzweise olfaktorisch zu unterscheiden. Im Sinne von: „Indigoblau roch nach den Schmetterlingsblüten in unserem Gewächshaus.“ Anfang der vierziger Jahre, mit 20, entschließt sich der moralisch übermotivierte Friedrich, nach Berlin zu gehen. Vorgeblich um Zeichenunterricht zu nehmen. Vielmehr aber in der Hoffnung, dass etwas von der Härte des deutschen Soldatenwesens auf ihn abfärben möge. Vor allem will er ein Gerücht prüfen: Die Nazis sollen die Juden in Möbelwagen in Vernichtungslager abtransportieren, hat er gehört. Stella/Kristin könnte ihm bei der Wahrheitssuche schnell helfen, sie ist selbst aktiv an Deportationen beteiligt. Aber sehr lange ahnt er nichts von dem, was sie wirklich treibt. Und sie lässt ihn im Ungewissen, womit sich der Vatersatz von der Wahrheit als Liebesbeweis im Umkehrschluss dann doch noch bewährt. So wird zum Beispiel im authentischen Protokoll-Teil des Romans geschildert, wie Stella Goldschlag mit großer Verfolgungsenergie ihren Ex-Mitschüler Moritz Zajdmann und dessen Vater aufgreift – im Foyer der Berliner Deutschen Oper. „Haltet ihn, ein Jude!“, ruft sie ihm hinterher. Aus der Perspektive von Friedrich gestaltet sich der Abend derweil weniger dramatisch. „Sie ging“, heißt es über „Kristin“, „allein ins Theater und in die Deutsche Oper und schaute die Zauberflöte. Das Geld gab ich ihr.“ Er lernt sie als Modell eines Aktzeichenunterrichts kennen. Verliebt sich in aller Dezenz. Bald zieht die Lebefrau mehr oder weniger in die Suite des Feingeists ein, die er – alimentiert von seinem Vater – dauerhaft im Grandhotel bewohnt. Eine Enklave luxuriöser Normalität mitten im Krieg, in der sie sich – die Badeszenen sind häufig – vom Schmutz ihres sonstigen Daseins reinigt, während er ihr, das Kriegsgeschehen um ihn herum verschwimmt, mehr und mehr verfällt. Eine eher unwahrscheinliche Konstellation. Würger pflegt wie schon in seinem in elitären englischen Unikreisen spielenden „Club“-Roman einen Hang zur Distinktion, der bis in die Nebenrollen durchdekliniert wird. Eine Welt, in der man – in der Endphase des Kriegs – bei Champagner und vom Pariser Marché des Enfants Rouges importierten Käse zusammensitzt. Wie im Debüt wird ein gutmeinender junger Mann reinen Herzens vom Leben und der Liebe beschädigt, was er selbst eher staunend verfolgt. Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich auch dieser Held korrumpieren. Sogar eine Boxszene – im Debüt ist der Kampfsport ein Hauptschauplatz – hat Würger wieder untergebracht und lässt in einer Berliner Kneipe Friedrich eine Anverwandlung der mythisch umrankten Figur des Noah Krieger zu Hilfe eilen, der Auschwitz dank der Boxleidenschaft des dortigen Lagerkommandanten überlebte. Skeptisch verfolgt man also, wie der Autor in seiner literarischen Reportage kühl kalkulierend an der abgründigen Tragweite seiner historischen Figuren partizipiert. Langsam vergisst man seine Reporter-Tricks. Man schwankt. Eigentlich will man sehr viel gegen dieses Buch einwenden. Und liest es doch auf der Stuhlkante zu Ende. Ein Aufgabesieg sozusagen.

Buchcover
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