Fotografie Hitlers „Pyramiden“: Autobahn-Bilder des Fotografen Jörg Brüggemann in Mannheim

Blockade. Brüggemann-Bild, aufgenommen auf der A2
Blockade. Brüggemann-Bild, aufgenommen auf der A2

Die Autobahn, viele halten das Monumentalbauwerk der Deutschen für eine Erfindung des selbsternannten „Führers“. Kraftwerk besingt sie maximal minimalistisch. Jetzt zeigt das Mannheimer Fotomuseum Zephyr unter dem Titel „Wie lange noch“ vom Fahrbahnrand aus aufgenommene Bilder des Berliner Fotografen Jörg Brüggemann. Abgefahren.

Bremsspuren auf der leeren Fahrbahn. Flecken. Ölspuren. Schrammen. Die Straße schießt diagonal durchs Bild. Zu auf einen Schatten. Am oberen Bildrand eine Wiese, Feldblumen. Am unteren das Dreieck eines Schottergartens mit Ziersträuchern. Ein deutsches Stillleben mit Unfallhintergrund. Dabei bleibt, wo genau Jörg Brüggemann sein so erzählerisches wie grafisch durchkomponiertes Foto aufgenommen hat, im Dunklen. Irgendwo zwischen der luxemburgischen Grenze, Pirmasens, Karlsruhe, Stuttgart, Ulm, Augsburg, München und Bad Reichenhall mutmaßlich. Auf der A 8 halt. Im Mannheimer Museum für Weltkulturen, wo das hauseigene Fotomuseum Zephyr zu Gast ist, ist nur dieses Hinweisschild auf dem Boden angebracht. „Wie lange noch“, heißt die Schau des weitgereisten Geschäftsführers der Fotoagentur Ostkreuz, in deren Mittelpunkt eine Serie mit Autobahn-Bildern steht.

Der 1979 geborene Brüggemann ist in Herne quasi im Dunstkreis von Schallschutzwänden großgeworden. Er liebthasst das Autofahren. 20.000 Kilometer weit ist er von 2014 bis 2019 für sein Projekt unterwegs gewesen in einem zur spartanischen Übernachtungsmöglichkeit ausgebauten Kastenwagen. Zwischen A1 und A111. Tempo 120 maximal. Auf Tour von Berlin aus, wo er lebt. Immer hat er, wenn ihm etwas auffiel, die nächste Ausfahrt genommen und ist zurückgefahren. Zwecks Unfallvermeidung hielt er nie auf dem Seitenstreifen an. Nie tauchte er in den Verkehrsnachrichten auf. Immer sei er ausgestiegen, um zu fotografieren, sagt er, wie bei keinem anderen Projekt habe er viele Bilder am Straßenrand liegen lassen müssen. Sein skeptisch faszinierter Blick auf das Monumentalbauwerk der Deutschen ging von einem Rand aus.

Erste Strecke: Mailand-Gallerta

Die Band Kraftwerk besingt es maximal minimalistisch. Zeugnis’ seiner Unsterblichkeit nannte ein gewisser Adolf Hitler das Straßennetz. Die Autobahn als solche ist im Kollektivgedächtnis ungut mit seinem Namen verbunden; gleichwohl schon 1923 eine Autostrada Mailand mit Gallerta verband. Seine Erfindung behauptete er dagegen und musste dafür die 1932 vom damaligen Kölner Oberbürgermeister eingeweihte A555 zur Landstraße degradieren. Auch der Erfinder des Begriffs Autobahn, Robert Otzen, Vorstandsvorsitzender des Hamburger Planungs-Unternehmens HaFraBa, durfte bei den Nazis offiziell nicht mehr erwähnt werden.

3896 Autobahnkilometer hat das Regime in zehn Jahren bis 1943 hinterlassen, angefangen 1933 mit der längst von der HaFraBa geplanten Strecke Frankfurt, Darmstadt, Mannheim, Heidelberg. 1955 zogen sich dann nur noch 2187 Kilometer Autobahn durch die Landschaft. Stand 2018 sind es 13.009 Kilometer.

Fotos als Entzifferung

„Mit den Pyramiden“ verglich GröFaz Hitler das Wegenetz. Brüggemann entziffert, wenn man so will, 80 Jahre später noch die Hieroglyphen. Unfallspuren wie vorhin beschrieben, Einschreibungen in die Natur, beinahe metaphysisch wirkende Zeichen – wie auf dem Bild, bei dem eine zerbeulte Leitplanke auf die diffuse Helligkeit einer Lichtung am Ende eines Feldwegs verweist. Oft gleichen Brüggemanns meist menschenleere Aufnahmen grafischen Zeichnungen, etwa wenn eine geräumte Abfahrt durch die Schneelandschaft kurvt. Oder Fotos wirken wie eine Art abstrakte Landschaftsmalerei in Mischtechnik: Natur, Asphalt und Beton.

Wie ein Schiff sieht die Verkehrsinsel aus, die der Fotograf bei seinen Überlandfahrten entdeckt hat, samt dem verbeulten Schild als Segel – das Ganze ein Readymade, wenn man so will, ein gefundenes Kunstwerk. Manche Bilder lesen sich auch wie eine Gesellschaftsanalyse. Und so dokumentiert er die – eigentlich – seltsame, typisch deutsche (?) Idee, Wellness mit Aussicht auf den sich fußballplatzweit entfernt vorbeischleppenden Schwerverkehr zu genießen. Oder das Bad in einem Baggersee in Autobahnkreuznähe.

Auf einem Foto sieht man vier etwas abgerissen wirkende Männer hinter der Leitplanke entlang der Autobahn laufen, drei mit schwarzer Hautfarbe. Wie eingeübt, unterstellt man sofort, dass es sich um Geflüchtete handelt. In Wahrheit, erzählt Brüggemann, hätten sie lediglich eine Autopanne gehabt.

Hoch symbolisch auch: das Foto des Grabs einer Familie Busch, geziert von einem historischen Grabstein. Konrad Busch hat von 1854 bis 1935 gelebt. Jetzt tost in unmittelbarer Nähe seiner letzten Ruhestätte der Autobahnverkehr. Als für die Fahrenden unsichtbares Memento mori auch. Nur kurz ist von da der Gedankensprung zum Ausstellungstitel „Wie lange noch“, ohne Fragezeichen, bei dem eine endzeitliche Stimmung mitschwingt. Auf einigen Werken sind bereits A-Irgendwas-Teilstücke im Status ihres Einsturzes oder Rückbaus zu sehen. Weil sie auf Sand gebaut, oder überflüssig geworden sind. Andererseits zeigen Brüggemanns verhalten wehmütige Bilder, dass die Autobahn irgendwie immer bleiben wird, selbst wenn sie dereinst nicht mehr gebraucht werden sollte.

Wo hin auch mit der Brücke, die brutal mitten im Wald steht, wenn später einmal selbstfahrende Elektro-Flugtaxis über sie hinwegschweben? Was ist mit dem Pfeiler, der im Hintergrund eines putzigen dörflichen Straßenzugs urgewaltig in den Himmel ragt? Wie lange noch? Der klotzige hermetische Riegel eines Schutzwalls, vor dem sich ein Vater-Mutter-Kleinkind-Idyll abspielt, hinterlässt – und sei es als ökologischer Fußabdruck – wohl noch Spuren, wenn die Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel des kleinen Jungen auf der Welt sind. Das heißt, sollten sie den auch von der Autobahn getriggerten Klimawandel überstehen.

Die Ausstellung

Bis 6. Januar 2021 im Zephyr zu Gast im Museum Weltkulturen der Reiss-Engelhorn-Museum. Zur Ausstellung gehören zudem Fotos unter dem Titel „Derecho De Vivir En Paz“ , die Brüggemann 2019 bei Protesten im chilenischen Valparaiso aufgenommen hat. Und die Serie „Mi Madre Tiene Novio“ (Meine Mutter hat einen Freund), für die das Museum ein rosafarbenes Haus im Haus gebaut hat. Die Arbeiten sind im Oktober 2018 bei einer dreiwöchigen Busreise von Valparaiso an die kolumbianische Karibikküste entstanden. Brüggemann hat sie in Gedenken an seine 2008 gestorbene Mutter unternommen. Es sind Fotos voller zart-hoffnungsvoller Melancholie.
Eines der wenigen Bilder mit Menschen. Das kennt man: Stau.
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Geflüchtete? Nein, die vier hatten eine Panne.
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Seltsame Vorliebe: Baden im Baggersee in Autobahnkreuznähe.
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Wohnträume und Altreifen auf einen Blick.
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Bewegung auf der A3
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Hieroglyphen eines Unfalls auf der A8
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Entdeckt. Die Verkehrsinsel als Schiff.
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Was von der Autobahn übrig blieb: Schrott.
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