Rheinpfalz Kalter Krieg: US-Atomwaffen in der Pfalz

Von 1960 bis 1966 standen auf dem Grünstadter Berg Marschflugkörper mit thermonuklearen Sprengköpfen. Sie wurden landläufig zwar
Von 1960 bis 1966 standen auf dem Grünstadter Berg Marschflugkörper mit thermonuklearen Sprengköpfen. Sie wurden landläufig zwar »Raketen« genannt, unterscheiden sich aber von ballistischen Raketen durch den permanenten Antrieb während des Flugs sowie dadurch, dass die Aerodynamik häufig mit Tragflächen unterstützt wird. Das Foto machte der US-Soldat Philipp Thomas, von 1962 bis Anfang 1965 als Sanitäter auf dem Grünstadter Berg stationiert.

Die Pfalz war Kernland des Kalten Krieges. In der Bundesrepublik gab es acht Stationen mit atomar bestückten Mace-Marschflugkörpern, bereit für den „Gegenschlag“ – allesamt in Rheinland-Pfalz, drei davon in der Pfalz. Dazu zählte in den 1960er-Jahren die US-Air-Force-Station bei Grünstadt. Eine Recherchereise zurück zu einem Mosaikstein der atomaren Abschreckung.

Der sowjetische Geheimdienst wusste schon Mitte der 1950er-Jahre, dass der US Air Force Security Service, der „Sicherheitsdienst der US-Luftwaffe“ auf dem Grünstadter Berg, eine kleine Radarstation betrieb, einen Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. So ist den „Russians“, wie die Amerikaner den Feind nannten, sicherlich auch nicht entgangen, dass dort 1959 gebaut wurde: eine Mini-Basis der US Air Force in Europa, die am 29. Mai 1960 in Betrieb ging. Zwölf Marschflugkörper, Mace A Missiles, waren hier nun 24 Stunden, sieben Tage die Woche und 52 Wochen im Jahr startbereit, im „Victor Alert“, wie die US-Luftwaffe den Daueralarm nannte. Über sechs Jahre lang standen die unbemannten Bomber startklar auf dem Hügel über der Kleinstadt, bereit, mit thermonuklearen Sprengköpfen einen sowjetischen Erstschlag innerhalb von 15 Minuten zu beantworten. 1966, in der Nacht zum 1. September, wurden die Systeme abgeschaltet und in den folgenden Wochen Flugkörper, Sprengköpfe und technische Ausrichtung nach Sembach auf die damalige Airbase gebracht, später über den Rhein und von Rotterdam aus in die USA verschifft. Es war vorbei: Der Grünstadter Berg gehörte nicht mehr zur Frontlinie im Kalten Krieg.

Nicht nur für Historiker interessant

Detaillierte Informationen zu den Mace-Flugkörpern finden sich im Buch „U.S. Air Force Tactical Missiles“ von George Mindling und Robert Bolton. Es beschreibt die Entwicklung der Marschflugkörper Matador und Mace Missile, listet die Standorte dieser „pilotless bomber“ auf, macht aber auch den Stolz deutlich von Tausenden „Missileers“, jenen US-Soldaten, die nach einem strengen Ausleseverfahren bei Geschwadern in der Bundesrepublik, in Südost-Asien und in den USA im Einsatz waren. Ihren Dienst versahen sie zur „Abschreckung der Gegner“ und zur „Sicherheit unserer Nation“, so Major General Richard T. Boverie im Vorwort zum Buch. Boverie war vor seinem Aufstieg zum Zwei-Sterne-General von 1956 bis 1961 in einer Missile-Einheit auf der Air Base Sembach stationiert. Für den Berliner Journalisten Klaus Stark haben Mindling und Bolton „lebendige Militärgeschichte“ geschrieben. Nicht nur für Historiker interessant, sondern auch „für die ortsansässige Bevölkerung, die endlich erfährt, was sich damals in ihrer Nachbarschaft zugetragen hat“, schreibt er in einem Leserbrief auf der Internetseite der Missileer-Veteranen (www.mace.b.com). Wer allerdings heute bei den Behörden nachfragt, bekommt immer noch keine Auskünfte zu der Tatsache, dass auf dem Hügel über Grünstadt nuklear bestückte Flugkörper standen. Sechs Jahre lang, gut sichtbar, praktisch auf freiem Feld. Wer sich von Osten her über die Autobahn Grünstadt näherte, konnte die Wellblech-Überdachungen sehen, die ab 1964 die Flugkörper vor dem Wetter schützten.

Tausendmal Hiroshima 

Für die Grünstadter war es die „Raketenstation“, durch einen doppelten Drahtzaun gesichert, streng bewacht, Tag und Nacht hell beleuchtet. Aber was die „Amis“ da tatsächlich in Stellung gebracht hatten, das interessierte nicht wirklich. So findet sich weder im Stadtarchiv noch in lokalen Chroniken ein Hinweis zu den Atomsprengköpfen, auch die Suche in Zeitungsarchiven bringt nichts, und selbst ältere Grünstadter kennen die Vergangenheit der ehemaligen US-Station nicht. Die Station auf dem Grünstadter Berg war in den 1960er-Jahren Teil des 38th Tactical Missile Wing, des 38. Taktisches Flugkörpergeschwaders, das seit 1959 sein Hauptquartier in Sembach hatte. Neben Grünstadt gehörten zu diesem Geschwader in der Pfalz noch Standorte in Enkenbach und Mehlingen, jeweils mit zwölf Mace-A-Flugkörpern. Und jedes Lenkgeschoss war nuklear bestückt, die Sprengkraft entsprach 1100 Kilotonnen TNT, also 1,1 Megatonnen. Zum Vergleich: Die Atombombe, die die US-Amerikaner am 6. August über Hiroshima abwarfen, hatte eine Zerstörungskraft von 13 Kilotonnen. Zwölf Flugkörper mit 1,1 Megatonnen – das sind 13,2 Megatonnen, pro Standort tausendmal Hiroshima. Nachdem die Lenkgeschosse vermutlich so programmiert waren, dass sie im Kriegsfall Flugplätze und Brücken in der DDR und in Polen bombardiert hätten, waren ihre Standorte für die Sowjets vorrangige Ziele. Zudem gehörten sie zu den „Quick Reaction Alert“-Basen, die als Erste auf einen Angriff des Warschauer Pakts reagieren sollten.

Den Finger nah am Abzug 

Besonders gefährlich wurde es im Oktober 1962, in den Tagen der Kuba-Krise, als die Welt durch die Stationierung von sowjetischen Raketen auf der Karibikinsel am Rande eines Atomkriegs stand. Der Elektronik-Techniker Robert Bolton, der im März jenes Jahres als 21-Jähriger auf dem Grünstadter Berg seinen Dienst angetreten hatte, erinnert sich noch genau. „Die Stimmung war sehr angespannt. Wir waren schon in normalen Zeiten als Mitglieder der Start-Crew die Speerspitze und hatten stets den Finger nah am Abzug, konnten die Mace Missile in 15 Minuten startbereit machen. Jetzt, in dieser gefährlichen Phase für alle, waren wir besonders wachsam. Als die Krise vorbei war, wurde nicht gefeiert. Wir machten unseren Job wie zuvor, hielten die Missiles startklar bis Ende August 1966“, schrieb er jetzt in einer E-Mail. Von 1975 bis 1985 hatte dort wieder ein Horchposten seinen Sitz, diesmal von der US Army, und zeitweise gab es Manöveraktivitäten. Nachdem die US-Streitkräfte das Areal 2007 freigaben – rund 25 Hektar und davon 8,6 Hektar immer noch eingezäunt –, steht es unter der Verwaltung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Doch auch hier gibt es keine Auskunft zur Vergangenheit. Es wird auf die „einschlägigen völkerrechtlichen Vereinbarungen“ hingewiesen. Das Gelände diene jetzt als Ausgleichsfläche für Bauvorhaben des Bundes, eine militärische Reaktivierung, heißt es, sei nicht mehr vorgesehen. Noch länger als auf dem Grünstadter Berg gab es Atomwaffen in der Stellung der US Army bei Quirnheim. Auf der anderen Seite des Eistals, Luftlinie fünf Kilometer von der Air-Force-Station entfernt, bot sich damit ein weiteres potenzielles Ziel für den Feind. Von 1961 bis 1983 standen hier atomar bestückte Nike-Hercules-Raketen: drei Batterien mit je zwölf Boden-Luft-Raketen. In unterirdischen Bunkern lagerten die Atomsprengköpfe, neun oder zehn sollen es gewesen sein. Im Gegensatz zur Stationierung der Mace Missiles bei Grünstadt ist dies kein Geheimnis und schon seit mindestens 30 Jahren bekannt. Ganz offiziell stand es 1987 in einer Pressemitteilung der Kreisverwaltung Bad Dürkheim, die sich jetzt im Grünstadter RHEINPFALZ-Archiv fand: „Die außer Dienst gestellten Raketen waren mit Atomsprengköpfen ausgerüstet“, heißt es da.

1994 geräumt

Presse und Lokalpolitiker waren damals zum Ortstermin eingeladen, als nach dem Abzug der Nikes der Umbau der Stellung fertig war und in Folge des Nato-Doppelbeschlusses konventionell bestückte Patriot-Raketen stationiert wurden. Im Vergleich zu den Missile-Geschossen waren die Nike-Köpfe „Bömbchen“: Die Mehrzahl im XS-Format mit zwei Kilotonnen Sprengkraft und dazu zwei mit XL-Größe von 40 Kilotonnen, in den 1970er-Jahren in 20er-Köpfe umgetauscht. Die Stellung Quirnheim wurde 1994 geräumt. Im Housing-Bereich, wo rund 200 Soldaten wohnten, entstand ein Gewerbegebiet, und auf der Abschuss-Basis wurde ein Solarpark eingerichtet.

Robert Bolton unter einer Mace A Missile im Sommer 1965 in Grünstadt. Übrigens: Pershing-II-Mittelstreckenraketen, deren Station
Robert Bolton unter einer Mace A Missile im Sommer 1965 in Grünstadt. Übrigens: Pershing-II-Mittelstreckenraketen, deren Stationierung in den 1980er-Jahren als Teil des Nato-Doppelbeschlusses massive Proteste der Friedensbewegung auslöste, wären nicht in Rheinland-Pfalz gestartet, sondern in Baden-Württemberg.
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