Leitartikel Ein Lob den Lesern

Ausgerüstet mit Scanstift und Smartphone haben sich in diesem Jahr rund 500 Testleser bei der Zeitungslektüre über die Schulter
Ausgerüstet mit Scanstift und Smartphone haben sich in diesem Jahr rund 500 Testleser bei der Zeitungslektüre über die Schulter schauen lassen.

Zeitungsabonnenten haben ein feines Gespür für journalistische Qualität. Doch gibt es auch Veränderungen im Leseverhalten, die es dem Journalismus schwerer machen.

Lesen Abonnenten die gedruckte RHEINPFALZ anders? Das war eine der Leitfragen für unsere aktuelle Lesermarktforschung „LeseWert“. „Anders“ meint dabei: anders als die Abonnenten vor 20 Jahren, und: anders als die Leser unserer elektronischen Angebote.

Der Zeitvergleich ergibt mehr Veränderungen als der Vergleich zwischen Print- und Digitallesern: 2020 müssen wir in der gedruckten Zeitung mehr für die Attraktivität der Texte und Themen tun, mehr Neugier wecken als vor 20 Jahren. Denn der Wettbewerb der Medien um das knappe Zeitbudget der Mediennutzer ist härter geworden.

Vor 20 Jahren galt die Regel: das Wichtigste zuerst. Heute funktioniert das nicht mehr, denn dann steigen viele Leser nach dem Vorspann aus. Stattdessen verraten wir zu Beginn nicht mehr alles und steigern die Neugier. Prompt steigen die Durchlesewerte.

Heute erwartet die Leserschaft mehr freie und exklusive Themen, Hintergründe und Erklärstücke als vor 20 Jahren. Meinungsangebote – also Leitartikel, Kommentar, Einwurf und Glosse – werden oft intensiver gelesen als im Jahr 2000. Das ist erklärbar: Die Welt ist so kompliziert geworden und die Nachrichtenflut so hoch, dass das eigene Angebot unterscheidbar sein und Orientierung geben muss. Deshalb ist zum Beispiel die Anzahl der abgedruckten Agenturtexte stetig zurückgegangen. Früher bestanden RHEINPFALZ-Titelseiten fast ausschließlich aus Agenturtexten. Man sieht das an den alten Titelseiten, die wir derzeit täglich abdrucken.

Geringer sind die Unterschiede im Leseverhalten von Print- und Digitalnutzern. Der Anspruch an Qualität ist ähnlich hoch. Das Themeninteresse unterscheidet sich etwas. Aber das liegt daran, dass die Digitalleser im Durchschnitt jünger sind als die Printleser.

Nach den zwei Wellen „LeseWert“ von 2019 und 2020 haben wir unsere Qualitätskriterien nachgeschärft. Wir haben uns zusätzlich zu unseren „Fünf Geboten“: Richtigkeit, Bedeutsamkeit, Exklusivität, gutes Handwerk und Attraktivität, „Zehn goldene Regeln“ gegeben, mit denen wir unter anderem mehr aus Leserperspektive auf die Themen blicken, mehr Neugier wecken und lange Texte besser strukturieren.

Unserer „LeseWert“-Testleserschaft danke ich herzlich. Sie hat uns geholfen, unsere Arbeit zu hinterfragen und die RHEINPFALZ besser zu machen. Dem Verlag danke ich, dass er die kostspielige Lesermarktforschung erneut ermöglicht hat.

Mir ist bewusst, dass unsere Testleser nicht repräsentativ sind für die deutsche Bevölkerung. In der gibt es zwei Entwicklungen, die mir Sorgen bereiten.

Erstens: ein gewisser Verlust an Allgemeinbildung. Wer sich für wenig interessiert, liest auch nicht. Je weniger gebildet ein Volk, umso geringer sein Bedürfnis nach Information, Erklärung und Meinung.

Zweitens: Auch Leser werden egoistischer. Je mehr Abonnenten erwarten, dass die Zeitung vor allem ihre eigenen Wünsche und Interessen bedienen muss, umso schwerer hat sie es, Überblicksmedium zu bleiben. Je mehr eine Redaktion auf die Interessen Einzelner eingeht, umso uninteressanter wird sie für die vielen. Zeitung lebt davon, dass viele sich fürs Allgemeinwohl interessieren und einsetzen. Deshalb tut sie es selbst auch.

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