Politik Urteil schickt Schockwellen durch Brasilien

Die Nachricht von der Verurteilung des früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva hat kleine Schockwellen durch Brasilien geschickt. Wer von ihr hörte, gab sie schnell weiter, auf Facebook und Twitter begannen hitzige Diskussionen, in die sich auch Politiker einmischten. Sie bewiesen vor allem, wie tief Brasilien gespalten ist – politisch und sozial.

Als der Richter Sérgio Moro am Montagnachmittag (Ortszeit) Ex-Präsident Lula da Silva zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilte, kündigten Lulas Gegner noch für den Abend Jubelpartys an. Seine Anhänger hingegen versammelten sich zu Demonstrationen für den 71-Jährigen Lula. Für sie ist die Entscheidung des Gerichts politisch motiviert. Sie sehen eine konservative Verschwörung gegen Lulas Arbeiterpartei am Werk, die mit der dubiosen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff im vergangenen Jahr begann. Lula da Silva ist der erste Präsident Brasiliens, der wegen Korruption verurteilt worden ist. Richter Moro hält ihn der passiven Korruption und Geldwäsche für schuldig, weil er ein Apartment der Baufirma OAS erhalten und im Gegenzug Aufträge des staatlichen Ölkonzerns Petrobras beschafft haben soll. Lulas Anwälte bestreiten aber, dass ihm die Immobilie überhaupt gehört. Tatsächlich gelang es den Anklägern nicht, die Besitzfrage hundertprozentig zu klären. Der Fall des Apartments war im Zuge der gigantischen Korruptionsermittlung rund um Petrobras aufgetaucht, die seit 2014 läuft und unter dem Namen „Lava Jato“ (Autowaschanlage) berühmt wurde. Interessant ist, dass Moro davor zurückschreckte, Lula tatsächlich hinter Gitter zu stecken. Aus „Besonnenheit“, so Moro, verzichte er solange darauf, bis das Urteil von der nächsten Instanz bestätigt wird. Lula geht nun in Berufung. Der Ex-Präsident betonte gestern, er habe das Urteil „mit Empörung“ zur Kenntnis genommen. In gewisser Weise war der Richterspruch nicht anders erwartet worden. Sérgio Moro hat erhebliche Zeit und Mittel investiert, den Ex-Präsidenten dingfest zu machen. Moro, ein 44-Jähriger mit Hang zur Selbstdarstellung, sagte, dass Lula die Mechanismen zur Korruptionsbekämpfung unterschätzt habe, die einst von ihm selbst geschaffen worden seien. Ebenso wichtig wie die Verurteilung Lulas ist die Konsequenz, ihn für 19 Jahre von allen politischen Ämtern auszuschließen. Sollte das Urteil Bestand haben, könnte Lula nicht wie geplant 2018 zu den Präsidentschaftswahlen antreten. Die Aktienkurse an der Börse in São Paulo schossen bei Bekanntgabe des Urteils in die Höhe, weil man dort einen Sieg Lulas fürchtet. Laut Umfragen wäre er derzeit mit rund 30 Prozent der Stimmen der aussichtsreichste Kandidat. Auch dies ist ein Grund, warum Lulas Anhänger von politischer Verfolgung sprechen. Für sie ist das Urteil der Versuch, Lulas Erbe zu diskreditieren. Während seiner Amtszeit von 2003 bis 2011 schaffte es der ehemalige Metallarbeiter, die Armut in Brasilien spürbar zu verringern. Mit Sozialprogrammen wurden Hunger und Analphabetismus erfolgreich bekämpft. Benachteiligte Gruppen, etwa junge Schwarze, bekamen erstmals Zugang zu weiterführender Bildung. So wurde Lula zu einem Mythos, der weit über Brasilien hinaus strahlte und dessen Programme von den Vereinten Nationen empfohlen wurden. Zeitweilig galt Lula sogar als beliebtester Staatsmann der Welt. Dieses Image bekam erste Kratzer, als bekannt wurde, dass die von ihm gegründete Arbeiterpartei für ihre Gesetzesvorhaben die Stimmen von Abgeordneten kaufte. Lula bestritt, davon gewusst zu haben. Das Urteil des Richters Moro wird nun die Staatskrise Brasiliens weiter vertiefen. Auch gegen den amtierenden Präsidenten Michel Temer und gegen zahlreiche seiner Minister gibt es belegbare Korruptionsvorwürfe. Zwar sind sie durch ihre Immunität geschützt, aber viele Brasilianer fragen sich, wann auch sie endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Auffällig ist, dass konservative und seit Jahrzehnten für ihre korrupten Praktiken bekannte Politiker bis heute nicht von der Justiz belangt werden. Viele Brasilianer amüsieren sich derweil mit schwarzem Humor: Lula da Silva verlor einst bei einem Arbeitsunfall einen kleinen Finger. Nun sei er zu neun Jahren Haft verurteilt worden. Ein Jahr für jeden Finger.

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