Politik Krisensicher und sinnstiftend

Erlernen einen Mangelberuf – und sind sehr motiviert: Vanessa (Mitte) und Sarah (rechts) messen Blutdruck.
Erlernen einen Mangelberuf – und sind sehr motiviert: Vanessa (Mitte) und Sarah (rechts) messen Blutdruck.

Sarah ist gut gelaunt, obwohl es kurz nach 6 Uhr am Morgen ist. Die 27-Jährige ist im dritten Ausbildungsjahr zur examinierten Altenpflegerin und hat in dieser Woche Frühdienst. Sie ist eine von elf Auszubildenden im Caritas-Altenzentrum Deidesheim, einem Haus mit 110 Betten. „Wir müssen selbst ausbilden, denn der Markt für Pflegekräfte ist leer gefegt“, sagt Verena Renner, Leiterin des Altenzentrums. Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit werden in der Altenpflege 15.000 ausgebildete Altenpfleger sowie weitere 8500 Pflegehelfer gesucht. Rein rechnerisch kommen in der Altenpflege auf 100 offene Stellen 21 Bewerber. Angesichts dieser Zahlen ist es für Renner nicht mehr als Kosmetik, wenn im Koalitionsvertrag 8000 zusätzliche und von Kranken- und Pflegekassen finanzierte Stellen für die etwa 13.600 stationären Alteneinrichtungen in Deutschland vorgesehen sind. Zwar hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nachgelegt und plant jetzt mit 13.000 Stellen. Doch Renner fragt sich, woher er das Personal nehmen will. Sarah beginnt unterdessen mit den morgendlichen Arbeiten: Bewohner waschen, kämmen, anziehen, Bettlägerige lagern, Betten machen, mit einer Fachkraft Verbände wechseln, Blutzucker messen. Später erzählt sie, dass sie nach ihrem Schulabschluss erstmal das ein oder andere ausprobiert hat, bevor sie sich zur Sozialassistentin ausbilden ließ. Als Alltagsbetreuerin kam sie ins Caritas-Altenzentrum Deidesheim. „Da habe ich mitbekommen, wie vielfältig die Arbeit in der Pflege ist.“ Es sei nicht nur Essen reichen, auf die Toilette begleiten oder Betten machen, versucht sie die Vorstellungen, die viele mit diesem Beruf verbinden, zurechtzurücken. Deshalb ärgert sie sich auch, wenn wieder einmal irgendein Politiker faselt: „Pflegen kann jeder.“ So sei es gerade nicht. „Denn dazu gehören Empathie und Fachkenntnisse“, sagt Sarah bestimmt. Vanessa stimmt ihr zu. Die 19-Jährige wusste genau, was sie nach ihrem Hauptschulabschluss machen will – im Altenheim arbeiten. Sie macht derzeit die einjährige Ausbildung zur Altenpflegehelferin. Sie ist zuversichtlich, dass sie weitere zwei Jahre zur Fachkraft anhängen kann. Voraussetzung sind ein Notendurchschnitt von 2,5 und ein bestandenes Examen. Sie hat genügend Argumente parat, warum dies ein „toller Beruf“ ist: „Man kann sich hocharbeiten, weiterbilden, qualifizieren. Der Job ist krisensicher und sinnstiftend.“ Für Pflegedienstleiterin Claudia Schamberger ist Qualifizierung ein wichtiger Aspekt, um Pflege attraktiver zu machen. Sie macht dies auch an ihrem Berufsweg fest: „Ich bin seit 35 Jahren in dieser Einrichtung und hatte die Chance, mich weiterzubilden. “ Sie gibt unumwunden zu: Ohne diese Aufstiegschancen würde sie heute nicht mehr in der Pflege arbeiten. Sarah und Vanessa sind noch voller Begeisterung dabei. Verena Renner freut das, aber sie weiß auch, wie belastend der Beruf ist. Mehr als eine Million Menschen arbeiten in der Altenpflege. Mehr als 730.000 Fachkräfte sind in den 13.600 stationären Einrichtungen, also den Alten- und Pflegeheimen, angestellt. Viele arbeiten aber nur in Teilzeit. Fast ein halbes Jahr suchen Arbeitgeber in der Altenpflege durchschnittlich, um nach einer Kündigung einen Ersatz zu finden. Wenn einer im Team geht, müssen alle anderen mehr Arbeit erledigen. Das verschleißt, entsprechend hoch ist der Krankenstand in der Branche. Laut dem „Gesundheitsatlas 2017“ des Dachverbands der Betriebskrankenkassen stehen Mitarbeiter in Alten- und Pflegeheimen mit 24 Fehltagen pro Jahr ganz oben in der Liste der Krankmeldungen. Die psychischen Belastungen und körperlichen Anforderungen durch schweres Heben und die Schichtdienste sind enorm. Der Stress ist groß und die Bezahlung vergleichsweise schlecht. Im Durchschnitt bekommen ausgebildete Altenpflegerinnen in Vollzeit 2621 Euro brutto im Monat – doch es gibt erhebliche regionale Unterschiede. Das alles führt dazu, dass viele Fachkräfte nach einigen Jahren den Beruf wechseln. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat ermittelt, dass nach zehn Jahren nur noch 37 Prozent der Altenpfleger in ihrem ursprünglichen Job arbeiten. „Viele steigen aus, weil sie den Arbeitsalltag mit dem stetigen Zeitdruck nicht mit ihrem Berufsethos in Einklang bringen können“, sagt Verena Renner. Praxisanleiterin Christine Schenk, über 24 Jahre in der Pflege tätig, beschreibt es so: „Man hat einfach nicht genügend Zeit für den einzelnen Bewohner.“ Sich hinzusetzen, zuzuhören, auch mal zu trösten – dafür fehle die Zeit. „Das wiederum macht ein schlechtes Gewissen.“ Wegen des Mangels an Fachkräften bleiben überall in Deutschland Pflegeheimplätze unbesetzt. Dort, wo in Rheinland-Pfalz die Quote von 50 Prozent Fachkräften unterschritten wird, müssen Heimbetreiber Betten stilllegen. Wenn die Fachkraftquote bei 49,5 Prozent liege, müsse sie sofort einen Aufnahmestopp verhängen, verdeutlicht die Leiterin des Caritas-Altenzentrums Deidesheim. Deshalb wünscht sich Renner ein bisschen mehr Spielraum, auch wenn sie betont: „Eine Fachkraftquote ist wichtig.“ Für Sarah und Vanessa steht außer Frage: Im Pflegesystem müsse vor allem auf Menschlichkeit geachtet werden. Aus dem Leid kranker Menschen dürfe kein Kapital geschlagen werden. Denn für die Bewohner eines Altenheims sei dies meistens die letzte Station ihres Lebens. Und damit ganz oft der Ort des Sterbens. Um diese Menschen zu begleiten, braucht es Zeit. „Das versuchen wir im Pflegealltag zu berücksichtigen“, sagt Verena Renner. Oft ein nicht einfaches Unterfangen. Die Erfahrungen mit Sterben und Tod haben bei Sarah Spuren hinterlassen. „Ich lebe bewusster“, sagt die 27-Jährige. Und dann erinnert sie sich an eine Bewohnerin, die ihr Folgendes auf den Weg mitgegeben hat:„Nutzen Sie jeden Moment in ihrem Leben, es ist so schnell vorbei.“

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