Interview mit Gerd Gigerenzer „Irgendein Risiko muss man eingehen“

Das Ringen um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie spaltet die Gesellschaft.
Das Ringen um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie spaltet die Gesellschaft.

Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer sieht in Corona nicht die größte Gefahr. Er warnt davor, aus Angst die falschen Risiken einzugehen und plädiert für einen rationaleren Umgang mit der Pandemie.

Herr Gigerenzer, ich möchte gerne mit einer persönlichen Frage starten: Wovor haben Sie Angst?
Nun, zu den großen Gefahren gehören Krieg, Klimawandel und auch der Missbrauch des Internets zur Überwachung und Steuerung der Menschen.

Das Coronavirus fehlt in Ihrer Aufzählung. Davor fürchten Sie sich nicht?
Selbstverständlich ist Covid-19 eine ernste Gefahr. In meinem eigenen Bekanntenkreis sind Menschen daran schwer erkrankt und gestorben. Dennoch ist es wahrscheinlicher, dass Sie und ich an einem Schlaganfall oder Herzinfarkt sterben.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren 2019 in Deutschland für gut ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich. Ist es also irrational, sich vor Corona zu fürchten?
Nein. Mein Punkt ist ein anderer. Wir sind in Deutschland keine Gesellschaft, die besonders risikokompetent ist; es fällt uns schwer, Risiken richtig einzuschätzen. Dabei ist es ganz wichtig, eine Sache zu verstehen: Wir sollten uns davor hüten, vor lauter Angst noch größere Risiken einzugehen. Es gibt Berichte, wonach in den vergangenen Monaten 30 bis 40 Prozent weniger Menschen mit Schlaganfall, Herzinfarkt und anderen schweren akuten Krankheiten ins Krankenhaus gegangen sind – aus Angst, sich dort mit Corona anzustecken.

Ihre Forschungen haben gezeigt, dass es besser sein kann, seinem Bauchgefühl zu vertrauen als einer rationalen Analyse zu folgen. Wie verträgt sich das aber mit den Vorgaben aus Politik und Wissenschaft?
Also die Vorgaben kommen ja aus der Politik, nicht aus der Wissenschaft. Denn dafür haben wir ja Politiker: dass sie Verantwortung übernehmen in Situationen, wo die Wissenschaft zwar beraten kann, aber dennoch ein hoher Grad von Ungewissheit bleibt. Zu Ihrer Frage: Bauchgefühl, das heißt Intuition. Und der sollte man dann vertrauen, wenn man viel Erfahrung mit einer Situation hat – also etwa mit Freunden oder Geschäftspartnern. Aber wenn etwas Neues wie Corona kommt, ist das nicht der Fall.

Brauchen wir deshalb staatliche Kontrolle statt Selbstkontrolle?
Die bessere Lösung wäre, wenn Menschen in kritischen Zeiten selbst mehr Verantwortung übernähmen. Je mehr Verantwortung wir selbst tragen, desto weniger staatliche Eingriffe brauchen wir.

Eine andere These, für die Sie bekannt sind, ist die Theorie vom nützlichen Halbwissen. In der Corona-Krise werden wir mit Statistiken zugeschüttet. Sollen wir sie ignorieren und unsere Ohren auf Durchzug stellen, um besser durch diese Zeit zu kommen?
Wenn wir Verschwörungstheorien ignorieren statt weiter zu verbreiten, dann tun wir uns allen einen Gefallen. Ich denke, Corona ist auch eine Chance zu lernen, wieder mehr mitzudenken. Etwa zu lernen, die Statistiken, die uns Angst oder Hoffnung machen, richtig zu lesen, ihre Grenzen zu sehen und vor allem, diese Zahlen zueinander in Bezug zu setzen. Wir sind in einer Situation, in der niemand wissen kann, wie sie sich weiterentwickelt. Und mit dieser Ungewissheit müssen wir leben lernen, statt sich Sicherheiten zu zimmern und fest überzeugt zu sein, dass Corona eine chinesische Biowaffe ist oder Bill Gates uns allen Mikrochips injizieren will.

Die junge Generation steht derzeit unter verschärfter Beobachtung. Ihr wird vorgeworfen, rücksichtslos Party zu feiern und so ihre Mitmenschen zu gefährden. Sind junge Leute risikobereiter als ältere?
Ich glaube, dass der große Teil der jungen Menschen sehr verantwortungsvoll ist. Die schlechten Beispiele stammen dagegen von älteren Herren, wie etwa den Staatenlenkern der USA und von Großbritannien. Dagegen sehe ich viele junge Menschen, die sich bemühen, Corona zu verstehen und sich Zeit nehmen, um sich mit den Zahlen auseinanderzusetzen. Meine Tochter zum Beispiel hört regelmäßig den Podcast „This Week in Virology“, dem jahrelang kaum jemand Aufmerksamkeit geschenkt hat und der jetzt weltweit gehört wird. Corona ist auch eine Chance, das zu tun, was Marie Curie einmal gesagt hat: „Wir müssen uns im Leben vor nichts fürchten, wir müssen es nur verstehen.“

Aber wie können wir etwas verstehen, über das wir noch immer kaum etwas wissen?
Wir müssen akzeptieren, dass Gewissheit in unserem Leben die Ausnahme ist. Als Wissenschaftler ist Ungewissheit für mich der Normalzustand. Denn wir haben es in allen Bereichen der Wissenschaft mit Hypothesen zu tun. Wir addieren Wissen hinzu, aber es gibt immer wieder neue Fragen. Das ist ja das Spannende. Stellen Sie sich mal vor, wie das Leben wäre, wenn wir unsere Zukunft mit Sicherheit wissen würden.

Was wäre dann?
Nun, dann wüssten Sie, wann Sie sterben. Ob Ihre Ehe in einer Scheidung endet. Wir wüssten alle zukünftigen Fußball- und Börsen-Ergebnisse. Das Leben wäre so langweilig wie nie zuvor. Und wir würden keine Emotionen mehr spüren, wie Vertrauen, Hoffnung, Angst, Enttäuschung, und Freude.

Emotional werden während der Pandemie auch einige Alltagssituationen diskutiert. Ich möchte Sie um eine persönliche Bewertung bitten: Halten Sie es derzeit für zumutbar, in Urlaub zu fahren?
Das hängt davon ab, wo Sie hinfahren. Also ich persönlich würde es vermeiden, in Hochrisikoländer zu fahren.

Und innerhalb Deutschlands?
Ich selbst war in Mecklenburg-Vorpommern, ein schönes Land. Wie gesagt, wenn wir uns alle an die Hygieneregeln halten, dann braucht man auch weniger Diskussion um staatliche Vorschriften.

Würden Sie Freunde zu einem netten Abend einladen?
Natürlich.

Ist das also kein zu großes Risiko?
Also, irgendein Risiko muss man eingehen. Es gibt kein Null-Risiko. Man kann sich ja als Ehemann auch nicht von Frau und Kindern isolieren. Isolation führt zu Depression und Leere.

Würden Sie mit Bus und Bahn fahren?
Ich glaube, gerade in der Bahn ist die Gefahr sich zu infizieren relativ gering, wenn man die üblichen Vorsichtsmaßnahmen einhält, also Distanz und Maske. Ich selbst lasse mich demnächst gegen Grippe impfen, denn Grippe ist auch nicht ganz ohne. Und wir vergessen, dass wir vor zwei Jahren nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts 25.000 Grippe-Tote hatten. Diese Menschen bekamen keine Aufmerksamkeit, weil Grippe etwas ist, das alle Jahre wiederkommt. Die menschliche Psyche fürchtet sich besonders vor neuen Gefahren.

Zum Schluss möchte ich den Psychologen Gerd Gigerenzer zu einer Prognose verführen: Wenn diese Krise vorbei ist – wird die Menschheit anders sein als vor Corona? Oder putzen wir uns den Mund ab und machen weiter wie zuvor?
Es wird einiges anders werden. Man hat zum Beispiel erkannt, dass Homeoffice besser funktioniert als man gedacht hatte. Wahrscheinlich werden auch wesentlich mehr Menschen als früher bei Internethändlern wie Amazon einkaufen, was den kleinen Läden schaden wird – und was ich sehr bedauern würde. Ich hoffe insbesondere, dass die Erfahrung mit Corona für viele ein positiver Impuls ist, mehr selbst mitzudenken und zu lernen, die Risiken zu bewerten und abzuwägen. Wenn die Pandemie vorbei ist, dann sollten wir uns auch zusammensetzen und gemeinsam darüber nachdenken, was wir für die Zukunft daraus lernen können. Dieses Nachdenken könnte auch die RHEINPFALZ organisieren, nicht wahr? Denn das ist nach der Schweinegrippe nicht passiert, auch nicht nach der Vogelgrippe, SARS, Ebola oder dem Rinderwahnsinn. Man ist einfach zum nächsten Thema übergegangen und hat sich vor etwas Neuem gefürchtet. Corona gibt uns eine Chance, besser zu verstehen statt uns mehr zu fürchten.

Gerd Gigerenzer (73) ist Psychologe und Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam.
Gerd Gigerenzer (73) ist Psychologe und Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam.
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