75 Jahre Grundgesetz Grundrechte in der Corona-Krise: Was darf der Staat?

Lockdowns, Schulschließungen und Kontaktverbote: Die Corona-Maßnahmen haben das Leben der Menschen stark eingeschränkt.
Lockdowns, Schulschließungen und Kontaktverbote: Die Corona-Maßnahmen haben das Leben der Menschen stark eingeschränkt.

Das Grundgesetz birgt einen umfangreichen Katalog an Grundrechten. Zu keiner Zeit wurden diese in so starkem Ausmaß eingeschränkt wie während der Corona-Zeit. Damit sollten Leben geschützt werden, doch zum Teil schossen die Behörden klar übers Ziel hinaus.

Als im März 2020 im oberpfälzischen Mitterteich die Covid-19-Fälle deutlich anstiegen, griff das zuständige Landratsamt Tirschenreuth zu einer drastischen Maßnahme: einer Ausgangssperre. Das Haus verlassen durfte man nur noch in bestimmten Fällen, etwa für Arztbesuche oder für die Arbeit. Überhaupt agierte man in Bayern zu Beginn der Corona-Pandemie mit sehr entschiedenen Maßnahmen. Oder muss man sagen: mit überzogenen Anordnungen?

Denn die Allgemeinverfügung, mit der das Landratsamt Tirschenreuth die Ausgangssperre erließ, zog umgehend scharfe Kritik von Juristen auf sich. Es fehle dafür die Rechtsgrundlage und die Ausgangsbeschränkungen seien auch nicht verhältnismäßig. Das sollte dann auch eine der zentralen Fragen werden während der Pandemie: Wie stark dürfen die Grundrechte des Einzelnen eingeschränkt werden zum Wohl der Allgemeinheit? Denn absolut gelten die Grundrechte natürlich auch nicht.

„Grundsätzlich sind Einschränkungen von Grundrechten möglich, wenn diese geeignet, erforderlich und angemessen sind, um einen legitimen Zweck zu verfolgen, beispielsweise die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden“, erklärt Josef Franz Lindner, Professor für Öffentliches Recht und Medizinrecht an der Universität Augsburg. „Hier hat eine Abwägung stattzufinden, zwischen dem Zweck, der erreicht werden soll und dem Gewicht des Grundrechts, in das eingegriffen wird.“

Wichtige Abwägung

So mancher hatte diese Abwägung sehr schnell getroffen. Auch Lindner hatte den Eindruck, dass man in der politischen Diskussion, aber auch bei manchen Gerichtsentscheidungen den Eindruck gewinnen konnte, „dass sich die Berufung auf Leben und Gesundheit immer durchsetzt“. Doch das sei dann keine Abwägung mehr, „dann steht das Ergebnis schon vorher fest“. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung müsse aber auch gefragt werden, „ob es einen weniger intensiven, gleich geeigneten Grundrechtseingriff gibt, um das gleiche Ziel zu erreichen“, ergänzt der Hochschullehrer.

Es muss also möglichst viel von einem Grundrecht übrig bleiben. Thorsten Kingreen, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Regensburg, spottete in einem Beitrag auf verfassungsblog.de: „Man kann noch nicht einmal mehr im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine rechtswidrige Ausgangssperre vorgehen, weil der Gang zum Gericht nach der bayerischen Allgemeinverfügung nicht mehr zu den triftigen Gründen zählt, draußen herumzulaufen.“

Verfassungsrechtler forderten vielfach, dass Gerichte sich bei der Bewertung

einzelner Lockdown-Maßnahmen eben auch anschauen müssten, wie angemessen die einzelne Maßnahme ist, und nicht die Summe aller Beschränkungen. „Kann eine Ausgangsbeschränkung einen solch signifikanten Beitrag zur Verhinderung von Infektionen leisten, dass dieser massive Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist?“, nennt Lindner als Beispiel. Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswieck schrieb in einem Aufsatz, dass der Staat zwar eine Schutzpflicht für das Leben habe, aber keine Pflicht, Lebensrisiken zu minimieren.

Für Lindner wäre eine wichtige Lehre aus der Pandemie, dass man im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausdrücklich auch Folge- und Nebenschäden berücksichtigt: „Denken Sie etwa an die Schulschließungen und deren schwerwiegende Folgen.“

Zunächst war vieles unklar

Eine Besonderheit der Pandemie machte indes nicht nur die staatliche Reaktion darauf kompliziert, sondern auch deren rechtliche Bewertung: Anfangs wusste man kaum, wie gefährlich das Virus ist, wie hoch die Sterberate ist, wer besonders gefährdet ist und wie sich das Virus genau verbreitet.

„Die Verhältnismäßigkeitsprüfung steht unter dem Vorbehalt des tatsächlichen Wissensstandes, den man hat oder haben kann“, sagt Lindner. Am Anfang der Pandemie habe das einen Einfluss auf die Abwägung gehabt. Unter Unsicherheit räume man der staatlichen Gewalt einen größeren Eingriffsspielraum ein. Wenn diese Unsicherheit aber aufgrund wissenschaftlicher Expertise abnehme, dürfe man sich „nicht weiter auf Unwissenheit berufen. Irgendwann ist dieses Argument nicht mehr tragfähig.“

Tatsächlich kippten Gerichte im Lauf der Corona-Zeit vermehrt einzelne Maßnahmen, wenn deren Nutzen zweifelhaft erschien. Gleichwohl wurde auch ein Großteil der staatlichen Beschränkungen als rechtskonform eingestuft.

Gegner der Corona-Politik malten dabei immer wieder das Schreckgespenst an die Wand, dass Deutschland auf dem Weg in ein autoritäres System sei. Was sich nach Aufhebung der Beschränkungen als unzutreffend erwiesen hat. Auch Lindner widerspricht: „Dass die Politik Corona gezielt genutzt hat, um Grundrechtseingriffe auf Dauer zu institutionalisieren, ist abwegig, das fällt in den Bereich von Verschwörungstheorien.“ Dennoch sieht er eine Gefahr: Dass der Staat bei der nächsten Pandemie, der nächsten außergewöhnlichen Notsituation „eine gewisse Routine bei der Anwendung solch starker Grundrechtseingriffe entwickelt, dass da ein Abstumpfungseffekt eintritt“.

Die Serie

Vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Verkündet am 23. Mai 1949 ist es der Grundpfeiler einer stabilen Demokratie, entstanden in unmittelbarer Erinnerung an die Schrecken und Verbrechen des Nationalsozialismus. Alle Teile dieser Serie über die Geschichte des Grundgesetzes finden Sie unter der Adresse www.rheinpfalz.de/politik.

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