Meinung Deutschland zur Fußball-EM: Ein anderes Land

Ab Freitag rollt der Ball. Viele hoffen auf ein neues Sommermärchen.
Ab Freitag rollt der Ball. Viele hoffen auf ein neues Sommermärchen.

2006 war Deutschland im Aufbruch, heute sucht es nach Orientierung. Erst recht nach der Europawahl. Die Zeiten sind freilich keineswegs so düster, wie viele tun.

Natürlich, früher war alles besser. Aber ist das wirklich schon die schlichte Erklärung für die kindlich-naive Hoffnung auf ein zweites Sommermärchen? Für den Wunsch, das Gefühl der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ins Hier und Jetzt zu teleportieren? Auf dass die bevorstehende EM alle Sorgen und Probleme wegbläst und den Grauschleier, der auf dem Land lastet, sauber schrubbt.

Nähert man sich dem Thema sportlich, besteht ja möglicherweise Grund zur Euphorie. Damals wie heute schien die Nation im Vorfeld eines großen Heimturniers an ihren Elitekickern zu verzweifeln; damals wie heute stabilisierten sich deren Leistungen gerade noch rechtzeitig.

Letztlich steht und fällt die Stimmung immer auch mit dem Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft. Dass das Turnier 2006 als Sommermärchen in Erinnerung geblieben ist, hat viel damit zu tun, dass sie gegen alle Erwartungen Dritter wurde.

Freundlich und weltoffen zur WM 2006

Damals feierte sich Deutschland allerdings auch ein gutes Stück selbst. Ein Land, das der Rest der Welt im Grunde für miesepetrig und langweilig hielt, zeigte ein freundliches, weltoffenes Gesicht. Wie man heute weiß, hatte die Bundesrepublik damals eine Talsohle durchschritten; wirtschaftlich ging es gefühlt wieder bergauf. Auf dem Arbeitsmarkt griffen die Reformen, die Arbeitslosenquote sank kontinuierlich – und das bis zum ersten Corona-Jahr 2020.

Heute kursiert tatsächlich eine Umfrage, derzufolge es 21 Prozent der Deutschen besser fänden, wenn wieder mehr Spieler mit weißer Hautfarbe in der deutschen Nationalmannschaft spielen würden. Freundlich und weltoffen ist das nun wirklich nicht. Und man ist sich nicht sicher, was schockierender ist: das Ergebnis oder dass eine solche Frage allen Ernstes gestellt wird.

Merkels Reformmüdigkeit

Es hat sich also ganz offensichtlich einiges verschoben: Während sich das Deutschland des Jahres 2006 im Aufbruch befand und vor Optimismus sprühte, sucht es 18 Jahre später nach Orientierung und hadert mit sich selbst. Das hat auch mit dem Coronavirus zu tun. Dass das Land zwar gut durch die Pandemie, aber wirtschaftlich nicht gut wieder herausgekommen ist, lag an der zunehmenden Reformmüdigkeit der Merkel-Regierungen, die viel zu lange nur verwalteten.

Tatsächlich traten Rote, Gelbe und Grüne anfangs als „Fortschrittskoalition“ an. Als die Ampel aber daran gehen wollte, den (gesellschafts)politischen Reformstau aufzulösen, sah sie sich unvermittelt mit einem Krieg in Europa konfrontiert. Das entschuldigt nicht alle Fehler der aktuellen Bundesregierung. Aber Zeitenwende, Energiekrise und Inflation sind durchaus Gründe dafür, dass es in der Koalition immer wieder vernehmbar knirscht. Obendrauf kommt nun das Erstarken des äußersten politischen Rands. Deutschland zeigt immer öfter eine hässliche Fratze, die nicht einmal die Rechtspopulisten unserer Nachbarländer sehen möchten.

Die Zeiten schon schlechter

Was also kann die Fußball-Europameisterschaft ab dieser Woche im Gastgeberland bewirken? Nicht viel vermutlich. Es wäre auch unfair, ein Sportereignis mit politischen Erwartungen zu überfrachten. Klar, wenn es für das eigene Team einigermaßen läuft, wäre das ein willkommener Stimmungsaufheller.

Dabei sind die Zeiten so düster nun auch wieder nicht. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt steht trotz ihrer Wachstumsschwäche keineswegs vor dem Kollaps. Mit 2,7 Millionen Arbeitslosen sind fast zwei Millionen Menschen weniger ohne Job als während des Original-Sommermärchens. Die Zeiten waren also schon schlechter. Nur – gefühlt war früher alles besser.

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Foto: Imago Images/Beautiful Sports

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