Psychologie Experiment: Was tun, wenn es das letzte Jahr im Leben wäre?

„Memento mori“ oder „Sei dir der Sterblichkeit bewusst“, lautet ein berühmter Spruch aus dem Mittelalter.
»Memento mori« oder »Sei dir der Sterblichkeit bewusst«, lautet ein berühmter Spruch aus dem Mittelalter.

In einem Gedankenexperiment haben zehn Frauen und Männer aus Deutschland so getan, als hätten sie nur noch zwölf Monate zu leben. Was wird einem da wichtig?

Ein Jahr lang haben zehn Menschen aus ganz Deutschland etwas versucht, was der Achtsamkeitstrainer Rüdiger Standhardt ein „einzigartiges Experiment“ nennt. Die Idee: So zu leben, als sei dieses Jahr ihr letztes. Alle zwei Monate haben sich die Teilnehmer online per Zoom zusammengeschaltet, geredet, kleine Meditationen gemacht, über Texte und Gedichte nachgedacht. Zwischendurch erhielten sie per Mail Briefe mit Gedanken und Aufgaben, tauschten sich mit Gesprächspartnern aus, schrieben ihre Autobiografie. Alles mit dem Ziel, dem eigenen Tod gedanklich näherzukommen. Geht das überhaupt? Kann man so leben, als habe man nur noch ein Jahr? Soviel im Voraus: Allen war bewusst, dass es sich um ein Gedankenexperiment handelt. Aber Standhardt sagt: „Das bewusste Leben mit der eigenen Endlichkeit ist ein unheimlicher Gewinn.“

Zu Beginn gab er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Fragen mit auf den Weg: Was sind meine drei wichtigsten Ziele für die Zeit des Experiments? Wer will ich am Ende dieses Jahres sein? Und letztlich: „Bin ich abflugbereit?“

Es geht um die „innere Reise“

Die große Reise, mit Delfinen schwimmen, den ungeliebten Job kündigen, der Road-Trip durch Skandinavien – tatsächlich erwähnte keiner der Teilnehmenden solche Träume, die vermeintlich am Lebensende auftauchen. Es ging vielmehr um die „innere Reise“ zur eigenen Endlichkeit, wie Standhardt es ausdrückt.

Die Mannheimer Psychologieprofessorin Corina Aguilar-Raab erklärt: „Wenn ich mich mit der Frage befasse, was im Hier und Jetzt für mich wichtig ist, dass ich meine Zeit nicht vergeuden will, sondern meine Ziele und Werte klären – wenn ich all das in mein Leben nehme, hat das etwas mit Vorbereitung auf das Sterben zu tun.“

Teilnehmerin Denise beispielsweise hat sich während des Jahres mit ihrer eigenen Biografie auseinandergesetzt. „Es ist ein gutes Mittel, auf Themen zu gucken, die auf mein Leben großen Einfluss haben.“ Im Seminar erzählt eine andere Teilnehmerin, dass sie durch die Biografiearbeit eine große Dankbarkeit für ihre Mutter entwickelt habe: Diese habe viel tragen müssen und habe ihrem Kind trotzdem viel Fürsorge gegeben.

Plädoyer für Leichtigkeit

Eine Buchempfehlung habe sie angeregt, sich mit ihren Schattenseiten zu beschäftigen, berichtet Teilnehmerin Sabine. Sie neige zur Rechthaberei: „Zu sagen: Das gehört auch zu mir – das macht meine Persönlichkeit rund und mich als Person ganz.“ Standhardt gibt dazu ein Zitat in die Runde, das dem Psychiater C.G. Jung zugeschrieben wird: „Willst du gut sein oder ganz?“ „Gutsein“ zu erreichen, falle sehr schwer, sagt Standhardt. Er plädiert daher für Leichtigkeit: „Wir sind Menschen, wir machen Fehler, manches gelingt, manches erst im zweiten Anlauf.“

Sich mit den eigenen Schattenseiten zu befassen und „wohlwollend und milde“ mit eigenen Fehlern umzugehen – das hält auch die Mannheimer Psychologin Aguilar-Raab für eine gute Vorbereitung auf den Tod. Die Philosophin und Publizistin Ina Schmidt, die sich in ihrem Buch „Über die Vergänglichkeit“ mit dem Abschiednehmen befasst, verweist in diesem Zusammenhang auf den französischen Philosophen Michel de Montaigne (1533-1592).

Austausch mit anderen

„Die Kunst, das Leben als etwas zu sehen, in dem Veränderung beständig stattfindet, kann nach Montaigne helfen, die Angst vor der eigenen Endlichkeit zu sich einzuladen“, zitiert Schmidt den Franzosen. Als hilfreich erweise sich zudem der Austausch mit anderen. Trost und Unterstützung seien „vielleicht das Wichtigste, was wir brauchen, wenn wir uns wirklich vorbereiten wollen“.

Es sei „natürlich nie möglich, herauszufinden, wie wir uns verhalten würden, wäre es wirklich das letzte Jahr“, sagt Ina Schmidt. „Ich bin sicher, dass wir uns erst im Angesicht des Todes wirklich neu kennenlernen können.“

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