Speyer „Viel länger im Berufsleben“

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Meinung am Montag: Die Dauer der Krankschreibungen auf dem höchsten Stand seit 20 Jahren, immer mehr psychische Leiden, kein besseres Bild beim Blick in die Statistik für Speyer und Umland – was ist mit den Arbeitnehmern los? Patrick Seiler hat Dr. Hans-Joachim Kalk, Leiter der Kassenärztlichen Kreisvereinigung Speyer, befragt.

Herr Dr. Kalk, wann waren Sie zuletzt krankgemeldet?

Oh, da muss ich überlegen. Ich war zwar krank, aber habe gearbeitet. Richtig krankgemeldet war ich glaube ich zuletzt 1994, und dann gab es mal zwei Tage, da ging es wegen Durchfalls wirklich nicht. Statistiken der Krankenkassen zufolge sind Arbeitnehmer im Schnitt von Jahr zu Jahr länger krankgemeldet. Deckt sich das mit den Erfahrungen aus Ihrer Praxis? Nachgerechnet habe ich das nicht, solche Zahlen sind eher für die Krankenkassen und die Politik relevant. Vor mir sitzt ein Mensch, der entweder krank ist oder nicht. Eine Tendenz, die ich merke, ist, dass heute viele länger im Berufsleben stehen, als es früher der Fall war. Und die merken es unter Umständen schon, dass sie nicht mehr die gesundheitlichen Reserven haben wie 40-Jährige. Da muss sich der Körper schon mal Zeit zur Erholung nehmen. Das liegt also an Veränderungen im Berufsleben. Insofern kann ich die Statistiken schon nachvollziehen. Die Krankenkassen verweisen zudem darauf, dass Fehltage wegen psychischer Erkrankungen zunehmen. Liegt das auch am Berufsleben? Kann sein. Die Arbeitswelt ist heute rationalisiert. Diejenigen, die noch in Lohn und Brot stehen, müssen zum Teil härter arbeiten als früher. Teilweise fehlt Fachpersonal. Es kommt zur Arbeitsverdichtung und zu Stress, das kann schon ein Risikofaktor für psychische, aber auch andere Arten von Erkrankungen sein. Sind Ärzte heute mit Krankschreibungen schneller bei der Hand? Bei mir hat sich da absolut gar nichts geändert. Gefälligkeitskrankschreibungen mache ich nicht. Und bei der Dauer eines Attests gibt es Erfahrungswerte: Nebenhöhlen fünf Tage, Durchfall drei – das reicht meist aus. Rückenschmerzen aber können nicht nur lästig sein, sondern auch lange dauern, da fällt man schon mal vier oder sogar acht Wochen aus. Wie viel Spielraum gibt es, wenn etwa der Patient um den gelben Zettel bittet oder umgekehrt aus Angst um seinen Job eine Krankschreibung unbedingt vermeiden will? Es ist nach meiner Wahrnehmung tatsächlich eher so, dass die Leute sagen, sie versuchen ohne Krankmeldung auszukommen. Ich habe es oft erlebt, dass ich gesagt habe, ich müsste sie krankschreiben, die Patienten aber versuchen wollten zu arbeiten – und am nächsten Tag doch wieder in der Praxis standen. In den Statistiken der Krankenkassen werden auch regionale Unterschiede ausgewiesen, etwa dass die Speyerer 2015 im Schnitt länger krankgeschrieben waren als die Neustadter, aber kürzer als die Ludwigshafener. Ist so etwas aus Ihrer Sicht aussagekräftig? Ich sehe keinen Faktor, der solche Unterschiede erklären würde. Wären es jetzt Unterschiede zu München oder Berlin, würde ich das verstehen, aber auf die Pfalz bezogen nicht. Es ist doch eher beschaulich hier. Vielleicht können aber Sozial- und Gesundheitspolitiker Schlüsse aus solchen Unterschieden ziehen. Allgemein gefragt: Steuern wir eher auf eine immer gesündere oder eine immer kränkere Gesellschaft zu? Sowohl als auch. Die Leute sind länger erwerbstätig und werden immer älter, aber sie können auch immer besser behandelt werden. Die Medikamentenverordnung nimmt zu, weil immer mehr Krankheiten effektiv behandelt werden können. Auch das tendenziell steigende Bildungsniveau hat seinen Anteil: Leute achten mehr auf ihre Gesundheit, betreiben mehr Vorsorge, kommen besser informiert in die Praxis und fragen auch gezielter nach. Zur Person Dr. Hans-Joachim Kalk (60) aus Speyer ist hausärztlicher Internist und Mitinhaber einer Gemeinschaftspraxis in Dudenhofen. Seit 2012 führt er die Speyerer Gruppe der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz. |pse

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