Krieg in der Ukraine Ukrainer wollen ihre Zukunft selbst bestimmen

Ukrainische Truppen in der Region Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine wurde am Sonntag offenbar von den Russen eingenomme
Ukrainische Truppen in der Region Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine wurde am Sonntag offenbar von den Russen eingenommen.

Warum wir die Ukraine auf keinen Fall im Stich lassen dürfen. Ein Plädoyer von Annette Weber

Vor fast genau zehn Jahren war ich das erste Mal in der Ukraine. Das Land hat mich nicht mehr losgelassen. Auf insgesamt vier Recherchereisen konnte ich die Menschen dort näher kennen lernen, ihre Sorgen und Nöte, ihre Wünsche und Hoffnungen besser verstehen. Freundschaften sind entstanden. Deshalb ist dieses Plädoyer dafür, dass Deutschland, Europa und die Welt sich für die Ukraine einsetzen müssen, auch sehr persönlich geworden.

Am Sonntagmorgen, ganz früh, kommt die Nachricht von Oksana Titarenko: „Die Russen sind in Charkiw.“ Eine niederschmetternde Nachricht, die in so krassem Gegensatz zu dem herrlich sonnigen Morgen in der Pfalz steht. Der Gouverneur der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine, Oleg Sinegubow, rief am Sonntag auf Facebook die rund 1,4 Millionen Einwohner auf, ihre Häuser nicht zu verlassen.

Freunde gefunden

Die Charkiwer Hochschuldozentin Oksana Titarenko, die ich vor zehn Jahren erstmals traf, ist mir zur Freundin geworden. Ich habe ihre Eltern und ihren Mann kennen gelernt und das Heranwachsen ihres heute siebenjährigen Sohnes Makar verfolgt. Sie hat mir Informationen besorgt, Kontakte vermittelt und für mich übersetzt. Aus dem Russischen wie aus dem Ukrainischen.

An der Militärakademie bildet sie Soldaten in Fertigungstechnik und Metallkunde aus. Ein in der „New York Times“ veröffentlichtes Foto zeigt die Straße vor ihrer Akademie, wo ein Geschoss eingeschlagen ist. „Hier gehe ich normalerweise jeden Morgen zur Arbeit“, sagt sie mir. Seit Donnerstag allerdings (zum Glück) nicht mehr. Sie ist zu Hause, mit Mann und Sohn. Und backt Brot. Um sich abzulenken, sagt sie. Und weil die Lebensmittel langsam knapp werden.

Leser spenden für Alexej

Ihr Nachbar Alexej Casanow hat es am Freitag noch geschafft, Lebensmitteltransporte in die zweitgrößte Stadt der Ukraine, in der immerhin 1,5 Millionen Menschen leben, zu organisieren. Alexej hat die Glasknochenkrankheit. Eine Geschichte 2017 in der RHEINPFALZ am SONNTAG über den jungen Mann und seinen unverbrüchlichen Optimismus, seinen Überlebenswillen und seine positive Ausstrahlung beeindruckte die Leser. Spontan sammelten sie für ihn. Von den Spenden konnte er sich einen Rollstuhl kaufen – und auch einen Computer, mit dessen Hilfe er sich in den vergangenen Jahren als Logistikberater für Unternehmen in der Region etabliert hat. Wie es für ihn weitergehen wird, weiß Alexej Casanow nicht. Derzeit kann er nur in der Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebt, sitzen und warten. In den U-Bahn-Schächten Charkiws Schutz vor den russischen Geschossen suchen, ist für ihn als Rollstuhlfahrer so gut wie unmöglich.

Auch Oksana Titarenko, die wie der Rest ihrer Familie Nacht für Nacht mit gepacktem Koffer und vollständig angezogen schläft, ist die Zukunft nur noch ein schwarzes Loch. Der Dozentin an der ukrainischen Militärakademie in Charkiw, die in Österreich studiert hat, werden die russischen Besatzer sicher nicht besonders gewogen sein. Ihr russischstämmiger Mann Iwan bangt um seine kleine Firma für Kunststoffrecycling. Beide sorgen sich um ihren Sohn, dem sie nun erklären müssen, warum Soldaten aus dem Nachbarland auf sie schießen.

Mit dem Baby auf der Flucht

In Österreich studiert hat auch Olesia Litvinova, die seit Donnerstag mit ihrem Mann und dem nur vier Monate alten Wolodymyr auf der Flucht ist. Für die ersten 130 Kilometer raus aus Kiew brauchte die kleine Familie zehn Stunden mit dem Auto, weil die Straßen völlig verstopft waren. Ursprünglich wollten die drei über Polen nach Deutschland, denn die Familie hat in Passau eine Wohnung, weil das Ehepaar beruflich eng mit Deutschland und Österreich zusammenarbeitet. Doch als sie am Freitag endlich in der Westukraine waren, kristallisierte sich heraus, dass Vater Wolodymyr wohl nicht über die Grenze kommen würde. Der 55-Jährige darf nicht ausreisen, weil Präsident Wolodymyr Selenskyj die Generalmobilmachung verfügt und Männer zwischen 18 und 60 Jahren zu den Waffen gerufen hat.

„Wir bleiben zusammen“, beschloss das Ehepaar, auch wenn viele ihrer Landsleute eine Trennung in Kauf nehmen, um wenigstens Frauen und Kinder außerhalb der Ukraine in Sicherheit zu wissen. Leicht gefallen ist die Entscheidung wohl niemand.

Kiew ist viel zu gefährlich

Am Sonntag kam die kleine Familie schließlich in der Kleinstadt Mukatschewo nahe der Grenze zur Slowakei und zu Ungarn an. Dort konnten sie erst einmal unterschlüpfen. Die Region Transkarpatien, in der Mukatschewo liegt, ist bisher vom Krieg noch weitgehend verschont geblieben. Aber wie es danach weitergehen soll, wissen die Eltern des kleinen Wolodymyr nicht. Ihr Unternehmen zur Forstkartierung, das in der Ukraine und Belarus den Baumbestand erfasst hat, liegt brach. In die Wohnung in Kiew können und wollen sie nicht zurück. Die Straßen dorthin sind versperrt, außerdem ist es viel zu gefährlich, meint Olesia Litvinova. Und ihre Wohnung in Deutschland ist unerreichbar, zumindest wenn die Drei als Familie zusammenbleiben wollen. Ab jetzt werden sie wohl vom Ersparten leben müssen.

Immer noch in Kiew ist Helena Shubkina. In der Nacht zu Sonntag konnte sie sogar ein wenig schlafen, erzählt sie, weil der angekündigte großangelegte nächtliche Angriff auf die Stadt dann offenbar größtenteils ausgeblieben ist. Allerdings gingen die Kämpfe am Morgen wieder los, berichtet sie. Die Mitarbeiterin eines schwedisch-ukrainischen IT-Unternehmens harrt weiter aus. Weil sie ihre Heimat nicht den Russen überlassen will.

So wie Helena denken viele in der Ukraine. Ihr verzweifelter Mut hat offenbar sogar die vorrückenden russischen Truppen überrascht. Hatte doch Präsident Wladimir Putin immer wieder betont, vor allem im Osten der Ukraine warteten die Menschen nur darauf, von ihnen „befreit“ zu werden.

Die fremden Herrscher wurden abgeschüttelt

Doch die Mehrheit der Ukrainer will kein Satellitenstaat Russlands werden. Gerade die jungen Menschen, das wurde mir in den vergangenen zehn Jahren klar, sehen ihre Zukunft im Westen, in der EU. Sie sind stolz darauf, dass sie es nach Jahrhunderten endlich geschafft haben, die fremden Herrscher abzuschütteln, dass ihr Land seit 1991 endlich eigenständig ist. Sie sind stolz auf ihre Kultur – sie können auch stolz darauf sein. Und sie sind stolz darauf, dass sie es im Gegensatz zu Russen und Belarussen nach zwei Revolutionen geschafft haben, eine einigermaßen funktionierende Demokratie aufzubauen, in der ein friedlicher Machtwechsel an der Staatsspitze möglich ist. Deshalb sind sie bereit, ihr Land mit dem Mut der Verzweiflung zu verteidigen. Und deshalb sollten Deutschland, die EU und der Westen die Ukrainer auch nicht alleine lassen.

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