Neustadt Risse in Fassade der Wohlanständigkeit

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Michael (Andreas Müller) rastet seiner Frau Veronika (Katrin Reif) gegenüber aus, Annette (Nad
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Michael (Andreas Müller) rastet seiner Frau Veronika (Katrin Reif) gegenüber aus, Annette (Nadine Ibelshäuser) und Achim (Siegfried Kralik) sind zynische Zuschauer.

«Neustadt.» Abgründig, rasant, reich an schwarzem Humor: Mit einer überzeugenden, höchst sehenswerten Inszenierung von Yasmina Rezas Kammerspiel „Der Gott des Gemetzels“ feierte die Neustadter Schauspielgruppe unter der Regie von Matthias Ibelshäuser im gut besuchten Theater „Katakombe“ Premiere. Für die Aufführung dieser abgründigen Gesellschaftskomödie gab es nach einer Stunde viel Applaus.

Die Stille wird jäh unterbrochen durch dissonant-dramatische Musik, Dmitri Schostakowitschs Streichquartett op. 110, ein beziehungsreiches Vorspiel zu einer sich abzeichnenden Tragikomödie. Zunächst scheint die Welt ganz in Ordnung. Veronika Müller arrangiert auf dem Tisch im sparsam möblierten Wohnzimmer Kunstbände und eine Vase mit Tulpen. Zusammen mit ihrem Mann hat sie das Ehepaar Baselitz zu einer Aussprache über einen folgenschweren Streit ihrer Söhne geladen. Diesen Vorfall, in dessen Verlauf Justin Baselitz Dennis zwei Zähne ausschlug, ruft Veronika von ihrem Tablet ab. Alle Beteiligten, wohlsituierte Bildungsbürger, sind um Versöhnung bemüht und geben sich überaus konziliant. Bei Kaffee und Kuchen ist Smalltalk angesagt, der allerdings im Verlauf des Abends immer wieder nervtötend von Achims Handy unterbrochen wird. Nolens volens bekommen die Müllers mit, dass der Rechtsanwalt höchst dubios eine Pharma-Firma in Ludwigshafen vertritt, die ein Medikament mit tödlichen Nebenwirkungen produziert. In rasantem Wechsel debattieren die Ehepaare zum einen über den Streit der Söhne, zum anderen über das Verhalten des Anwalts, dem Michael vorwirft, aus Profitgier gefährliche Medikamente auf dem Markt zu belassen. Die Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit erhält rasch tiefe Risse. Auf die Frage nach dem Grund des Streits erklärt Annette, dass Dennis ihren Sohn nicht in seine Bande aufnehmen wollte, worauf Michael erfreut, seine Frau indigniert reagiert. Und als sie gefragt wird, ob sie Justin bestrafen werde und das Handy erneut erbarmungslos klingelt, wird es Annette schlecht, sie übergibt sich – ausgerechnet auf den kostbaren Kokoschka-Band. Jetzt ist es Veronika, die ihre Contenance verliert und zum Vergnügen des Publikums völlig ausrastet. Als sie ihren Mann wegen des Hamsters der Tochter, den er ausgesetzt hatte, attackiert, ist die Spirale der Aggressivität nicht mehr anzuhalten. Für Michael wird klar: „Die Ehe ist die schwerste Prüfung, die Gott uns auferlegt hat“, und „Kinder sorgen nur für Katastrophen“. Was Achim toppt, indem er den Streit der Söhne verteidigt und für das Recht des Stärkeren plädiert. Sein Credo: „Ich glaube an den Gott des Gemetzels. Das ist der einzige Gott, der seit Anbeginn der Zeiten uneingeschränkt herrscht“. Und dieser ist am Ende der eigentliche Sieger. Mitmenschlichkeit, Toleranz und vor allem das Wohl der Kinder bleiben völlig auf der Strecke. Eine Flasche Whisky ist geleert, Annette trinkt heimlich aus ihrem Flachmann, Achims Handy schleudert sie in die Blumenvase – Chaos pur. Dann der Anruf von Tochter Clara, die sich nach ihrem geliebten Hamster erkundigt. Veronika beruhigt sie mit der Lüge, er werde ganz sicher überleben, und auch der Vater sei traurig. Schweigen. Hilflos, resigniert bleiben alle Beteiligten zurück, einig allein in der Erkenntnis, dass es der schlimmste Tag ihres Lebens war. In dieser schwarzen Komödie erweist sich die französische Schriftstellerin als Meisterin der Dialogkunst, als präzise Beobachterin und Kennerin komplizierter Zeitgenossen, deren seelische Abgründigkeit sie erbarmungslos ins Licht rückt. Matthias Ibelshäuser, assistiert von Elmar Weik, inszeniert das leicht gekürzte Stück als groteskes Psychodrama, in dem die Protagonisten überraschende Metamorphosen durchlaufen. Katrin Reif als Veronika wandelt sich vom personifizierten Gutmenschen mit höchsten moralischen Ansprüchen zu einer Furie, für die am Ende der von ihr postulierte „Codex der westlichen Welt“ seine Gültigkeit verloren hat. Ihren Mann provoziert sie so lange, bis er die Fronten wechselt. Andreas Müller gibt ihn als sympathischen Mitmenschen, der schließlich zum Choleriker wird. Nadine Ibelshäuser überzeugt als Annette, die anfangs ganz cool erscheint, von den auf sie einstürmenden Konflikten jedoch total überfordert ist und sich als hypersensibles Nervenbündel erweist. Achim, ihren Mann mit der Handy-Sucht, den scheinbar nichts aus der Reserve locken kann, gibt Siegfried Kralik zunächst unterkühlt, zynisch, bis auch er am Boden zerstört zurück bleibt. Alle Akteure liefern eindrückliche Psychogramme von Menschen, die, jeder auf seine Weise, zutiefst gestört sind. Eine brillante Inszenierung dieses Stückes, das bei allem schwarzen Humor die Frage aufwirft, wie viel Abgründiges in jedem von uns, auch den Zuschauern, steckt. TERMINE Weitere Aufführungen gibt es am 9., 10., 16. und 17. März jeweils um 20 Uhr im Theater „Katakombe“ im Christlichen Jugenddorf, Sauterstraße 6, in Neustadt. Karten (15 /12 Euro) bei Tabak Weiss.

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