Ludwigshafen Hüpfende Finnen

Die Schauspielerin Anke Siefken als Twitter-Oma Renate Bergmann neben ihrem Erfinder, dem Autor Torsten Rohde. Die virtuelle Kun
Die Schauspielerin Anke Siefken als Twitter-Oma Renate Bergmann neben ihrem Erfinder, dem Autor Torsten Rohde. Die virtuelle Kunstfigur hat unzählige Follower, stößt aber auch bei Bücherlesern, nicht nur in Oppau, auf Interesse. Ein Vorbild für die Zukunft des Buches?

Simon Beckett mit dem Thriller „Die ewigen Toten“ und Klaus-Peter Wolf mit dem Regionalkrimi „Ostfriesennacht“ waren im März in der Rhein-Neckar-Region die beliebtesten Bücher. Ferdinand von Schirachs Sammlung von Geschichten in „Kaffee und Zigaretten“, bundesweit auf Platz eins der „Spiegel“- und „Focus“-Bestsellerliste, hat es nur bei Thalia auf den Planken unter die ersten Fünf geschafft.

Wahrscheinlich haben die wenigsten es überhaupt bemerkt, aber am 2. April war Kinderbuchtag. Und noch weniger als diese wenigen dürften sich das Motto des Kinderbuchtages zu Herzen genommen haben. Es lautete: „Bücher helfen gegen Eile.“ Dabei haben Kinder diese Mahnung am wenigsten nötig. Schon in den siebziger Jahren hat der jüngst verstorbene französische Geschwindigkeitsforscher Paul Virilio für unsere von hektischer Betriebsamkeit und unter einem stetig zunehmenden Zeitdruck stehende abgehetzte Gegenwart das Oxymoron vom „rasenden Stillstand“ geprägt. Da wird dieser Kinderbuchtag nun schon seit 1967 in 78 Ländern begangen, aber dass es deshalb weniger hektisch zugehen würde, wäre wohl verwegen zu behaupten. Lesen soll aber auch nur „eine Oase der Ruhe“ bilden, wie der Kinderbuchautor Kestutis Kasparavicius aus Litauen, dem diesjährigem Patenland des Kinderbuchtages, das Motto erklärt hat. Lesen ist ja nur ein Freizeithobby, eine Tätigkeit mit einer Balu’schen „Versuch’s mal mit Gemütlichkeit“-Einstellung . Für Erwachsene, die sich tagtäglich den Anforderungen des Berufs- und Geschäftslebens gewachsen erweisen müssen, ist es schon schwerer, sich dem Zug der Zeit zu entziehen. „Einszweidrei, im Sauseschritt / Läuft die Zeit, wir laufen mit“, dichtete schon anno dazumal Wilhelm Busch. Mit der im Zeitalter der Globalisierung um sich greifenden Digitalisierung hat der „rasende Stillstand“ noch einmal einen gewaltigen Schritt zugelegt. Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass in solch einer Atmosphäre das gute alte Buch sterbenskrank wird, ist es, dass ernsthaft vorgeschlagen wurde, das Buch zu bewahren, indem man es zum schützenswerten Kulturgut erklärt. Dagegen nun hat sich wiederum Florian Illies ausgesprochen, seit Jahresbeginn Verleger des Rowohlt-Verlags und selbst Bestsellerautor („Generation Golf“, „1913“). Das Buch sei „ein durchsetzungsfähiges, quicklebendiges Medium“, meinte er. Die Verlage müssten es nur wieder begehrenswert machen, indem sie Sprache und Themen aus den sogenannten sozialen Medien ins Buch holen. Als Musterbeispiel nannte Florian Illies „unsere wunderbare Online-Oma Renate Bergmann“, eine virtuelle Kunstfigur des Humoristen Torsten Rohde. Mit „Das Dach muss vor dem Winter drauf“ stand sie im März auf Platz drei in der Leseecke Oppau. Ergänzend zu solchen verlegerischen Anstrengungen hofft Florian Illies mit einem ungebrochenen aufklärerischen Optimismus auf die Umkehr des ganzen Menschen. Er setze, sagte er in demselben Interview, auf die Selbsterkenntnis, dass derzeit viel zu viel Zeit mit dem Smartphone verbracht werde. Ein probates Mittel, um sich als Liebhaber von Büchern die gute Laune nicht verderben zu lassen, hält Wladimir Kaminer bereit: „Am einfachsten ist der Zustand der Welt beschwipst zu ertragen“, sagte er anlässlich einer Lesung seines letzten Buchs „Die Kreuzfahrer“. Kreuzfahrten, meinte er weiter, seien vor allem eine Möglichkeit, der Realität zu entfliehen. Gemeinsam ist Vergnügungsfahrten auf Schiffen, einem Alkoholrausch oder dem Konsum anderer Betäubungsmittel und dem Surfen in der virtuellen Welt also die Weltflucht. Ein anderes Mittel, bei guter Laune zu bleiben, ist das Lachen. Dazu verhelfen kann der Preis für den ungewöhnlichsten Buchtitel des Jahres, der im März auf der Leipziger Buchmesse vergeben worden ist. Er ging an „Hyppytyynytyydytys“, ein Buch aus der Feder des Poetry-Slammers Henrik Szanto. Das Wort mit 18 Buchstaben, neun davon Ypsilons, kommt aus dem Finnischen und bezeichnet, passend zum Kinderbuchtag, die Freude, die man empfindet, wenn man auf Kissen herumspringt. Ursula Malchau vom Buchladen Gartenstadt empfiehlt „Der Mann, der überlebte“ von Lawrence Elliott. „Manche halten ihn für den beachtenswertesten Amerikaner aller Zeiten“, so beginnt dessen Lebensgeschichte George W. Carvers. Sie erzählt von einem Kämpfer für die Würde und Rechte der Afroamerikaner, der Bildung und Wissen erworben hat und mit seinem Einfühlungsvermögen in allem ein Hoffnungszeichen gesehen hat, gibt die Buchhändlerin den Inhalt des Buches an. Zu Carvers Lebensleistungen gehöre, dass er den ausgemergelten amerikanischen Süden nach den Sezessionskriegen von der Herrschaft der Baumwolle befreit und die Farmer vom Nutzen des Erdnussanbaus überzeugt habe. Es sei eine Lebensgeschichte, die in einer Sklavenhütte in den Südstaaten begonnen habe, in dessen Mitte kein Geringerer als Henri Ford Carvers Weggefährte gewesen und an dessen Ende die „New York Herald Tribune“ geschrieben habe: „Vielleicht hat kein Mensch in diesem Jahrhundert mehr für ein besseres Verständnis zwischen den Rassen getan.“ Ursula Malchau meint: „Ein historisch höchst interessantes und menschlich sehr anrührendes Buch.“

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