Rheinland-Pfalz Ludwigshafen: In einem knappen Jahr radikalisiert

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Um »die Hunde der Kreuzzügler zu terrorisieren«: So erklärte der damals Zwölfjährige in einem Bekennervideo, warum er in Ludwigshafen ein Selbstmordattentat verüben würde. Unser Bild stammt aus einem älteren Film, mit dem er im Netz ein anderes Kind bedrohte.

Ende 2016 wollte sich ein Zwölfjähriger auf dem Ludwigshafener Weihnachtsmarkt in die Luft sprengen. Was vorher geschah, hielten die Behörden bislang möglichst geheim. Doch nun liegen der RHEINPFALZ amtliche Unterlagen zu seinem Fall vor. Sie beschreiben, wie der Junge sich radikalisierte – und was in den letzten Tagen vor seinem Anschlagsversuch geschah.

Ein Feuerzeug werde ihn jetzt ins Paradies bringen, diese Nachricht tippt ein Zwölfjähriger am 26. November 2016 in sein Handy. Um 12.47 Uhr schickt er sie ab. Sie geht an einen Vertreter der Terrormiliz IS, der Deutsch spricht und irgendwo in Syrien oder im Irak sitzt. Der Junge hingegen steht auf dem Ludwigshafener Weihnachtsmarkt, in seiner Tragetasche steckt ein selbstgebauter Sprengsatz.

Er spricht von einer „Märtyreroperation“

Um damit von der Wohnung seiner Eltern zum Budendorf zu laufen, dürfte er eine knappe Viertelstunde gebraucht haben. Unterwegs hat er sich auch noch selbst gefilmt. Es ist ein Bekennervideo: Von einer „Märtyreroperation“ spricht der in der Stadt aufgewachsene Deutsch-Iraker. Und davon, dass er jetzt losgezogen sei, um „die Hunde der Kreuzzügler zu terrorisieren“. Damit ist er am Endpunkt einer Radikalisierung angekommen, die, so rekonstruieren es später die Ermittler, ein knappes Jahr vorher begonnen hat.

Der Junge chattet mit einem Berliner Häftling

Anfang 2016 sollen ihn Internet-Bekannte erstmals mit islamistischem Propagandamaterial versorgt haben. Der Junge weiß, wie brisant das ist: Er beginnt, über verschlüsselte Kanäle zu kommunizieren. Und er sucht jemanden, der ihn nach Syrien bringt. Helfen soll ihm ein Libanese, der wegen schweren Raubs in einem Berliner Gefängnis sitzt, aber in seiner Zelle ein Handy versteckt hat. Damit hortet er IS-Videos, sie zeigen Kämpfer, Hinrichtungen, Folterszenen. Und er chattet, zum Beispiel mit dem jungen Ludwigshafener.

Zunächst will er nach Syrien

Den allerdings muss der Häftling enttäuschen. Die Terrormiliz will den Zwölfjährigen nicht in ihr Herrschafts- und Kriegsgebiet holen: Gefragt sind jetzt Leute, die Attentate in ihren Herkunftsländern verüben. Doch auch dafür ist der Junge zu haben. Vom Sommer an hält er Online-Kontakt zu dem damals 17-jährigen Lorenz K.. Dieser Sohn albanischer Eltern lebt in Wien und schmiedet dort ebenfalls Anschlagspläne. Doch vor allem ermutigt er seinen Internet-Freund in der Pfalz, als dessen mörderisches Vorhaben konkret wird.

Die Apostelkirche wird zum möglichen Anschlagsziel

Am 23. November schreibt der Zwölfjährige zum ersten Mal, dass er jetzt bereit ist. Einen Tag später verschickt er ein Foto, das seinen selbst gebastelten Sprengstoffgürtel zeigt. Doch noch ist zu klären, wo genau er ihn explodieren lässt. Der Zwölfjährige möchte am liebsten Christen töten: Als Anschlagsziel hat er sich einen 10.30-Uhr-Gottesdienst am ersten Adventswochenende in der Ludwigshafener Apostelkirche erkoren. Was ihn in deren Innenraum erwartet, erkundet er mit einem aus dem Netz heruntergeladenen Foto.

Der Wiener schickt ihn stattdessen auf den Weihnachtsmarkt

Sein Wiener Komplize allerdings empfiehlt den Weihnachtsmarkt und setzt sich damit auch durch. Begründung: Dort sind mehr Leute. Doch einstweilen steht der Junge noch vor praktischen Problemen. Am 25. November zum Beispiel beklagt er sich, dass ihn sein Vater nicht aus dem Haus lässt. Außerdem stellt er fest, dass sein Sprengstoffgürtel zu auffällig ist. Und überhaupt, er scheint doch wieder zurückzuschrecken – bis Lorenz K. von Allah spricht, an andere „Märtyrer“ erinnert, getötete Muslime und ihre Kindern erwähnt.

Unterwegs filmt er sich für ein Bekennervideo

Einen Rat gibt der Wiener obendrein: Der Zwölfjährige soll Koransuren aufsagen, um sich so zu bestärken. In dem Mittagsstunden des 26. November schickt der 17-Jährige letzte Instruktionen nach Ludwigshafen: Der Junge möge vor dem Anschlag sein Handy „entsorgen“, vorher noch das Bekennervideo für den deutschsprachigen IS-Vertreter im Herrschaftsgebiet der Terrormiliz drehen. Doch dann bleibt die Explosion aus. Tage später führt ein Informant die Polizei zum Sprengsatz, der mittlerweile in einem Gebüsch liegt.

Im Friedenspark liegt eine Sprengstoff-Chemikalie

Obendrein bringt der Tipp-Geber die Ermittler zu einer Tüte mit anderthalb Kilogramm Kaliumnitrat, mit dieser Chemikalie lässt sich Sprengstoff herstellen. Der Zwölfjährige allerdings erzählt daraufhin dem Landeskriminalamt: Er kenne den Plastiksack aus dem Friedenspark, habe ihn dort aber nur gefunden. Erst später gesteht er ein, dass er die Chemikalie doch selbst gekauft hatte. Überhaupt, seine fünf Vernehmungen – zwei noch im Dezember 2016, dann je eine im Januar, April und Mai 2017 – verlaufen zäh.

Fünfmal wird der Junge vernommen

Als einsilbig wird der Junge beschrieben, nur vage antworte er. Oft streite er Dinge ab, obwohl sie mit den vielen gesicherten Textnachrichten leicht zu belegen waren. Und wenn er sich doch einmal offener gibt, dann sei seine Kooperationsbereitschaft nur vorgespielt. So jedenfalls steht es in einer eigentlich noch geheimen, der RHEINPFALZ aber vorliegenden Anklageschrift. Mit ihr wird die Wiener Staatsanwaltschaft demnächst Lorenz K. als Anstifter des Ludwigshafener Attentatsversuchs vor ein Schwurgericht stellen.

Er ging gleich zweimal auf den Weihnachtsmarkt

Der Ludwigshafener Junge hingegen geht straflos aus, weil er zur Tatzeit noch so jung war. Mittlerweile lebt er mit seinen Eltern an einem abgeschotteten Ort, auf Kosten der Stadt Ludwigshafen betreut ihn eine eigene Psychologen- und Pädagogen-Mannschaft. Rund um die Uhr wacht dort außerdem ein privater Sicherheitsdienst, denn für gefährlich halten die Ermittler den mittlerweile 13-Jährigen noch immer. Immerhin schließen sie aus seiner Internet-Kommunikation, dass er gleich zweimal zum Selbstmord-Attentat schritt.

Sein Eigenbau-Sprengsatz hätte Schaden anrichten können

Demnach hat er am ersten Adventssonntag, einen Tag nach seinem ersten und ergebnislosen Versuch, die Eigenbau-Bombe für einen weiteren Anlauf noch einmal auf den Weihnachtsmarkt getragen. Gutachter haben den mit Nägeln gespickten Gewürzglas-Sprengsatz später nachgebaut und gezündet. Ergebnis des Experiments: Es handelt sich um eine „funktionsfähige Brandvorrichtung“, die wohl tatsächlich Schaden angerichtet hätte. Denn sie hätte zumindest die Kleidung umstehender Menschen entzünden können.

„Das Teil geht nicht hoch“

Warum er sie dann trotz zweier Anläufe unbenutzt in einem Gebüsch versteckte, hat der Junge den Ermittler nie richtig erklärt. So bleibt ihnen nur, seine Chat-Nachrichten zu deuten. In denen berichtete er schon vorab, dass er Probleme mit dem aus Wunderkerzen zusammengebastelten Zündmechanismus hatte. Und am 27. November meldete er dem IS-Vertreter im Herrschaftsgebiet der Terrormiliz per Sprachnachricht: „Ich habe alles versucht. (...) Das Teil geht nicht. Das geht nicht hoch.“

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