Rheinland-Pfalz Aufgedrehte Nostalgie

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„Pulsierende Pfalz“ ist in diesem Jahr das Motto des großen Fotowettbewerbs für RHEINPFALZ-Leser. Die schönsten Aufnahmen erscheinen wieder in einem RHEINPFALZ-Fotokalender. Zudem werden die zwölf Siegerbilder mit Geldpreisen belohnt. Unsere Begleitserie zum Fotowettbewerb zeigt Beispiele, wo die Lebensadern der Pfalz pulsieren. Heute: das älteste Karussell der Pfalz und seine Drehmomente.

Diese Pferde sind immer auf dem Sprung. Sie blähen die Nüstern, die Augen funkeln unternehmungslustig. In ihrem Zaumzeug glitzern kleine Spiegel. Die 16 prächtig bemalten Holzpferde sind die Zierde des Etagenkarussells der Schaustellerfamilie Hartmann aus Landau. Dazu gibt es noch einen Elefanten, einen Löwen und ein Schwein – in der oberen Etage kann man in Schiffschaukeln wippen. Eine Fahrt dauert zwei Minuten – die Zeit reicht, um die Welt für einen Moment zu vergessen. Zwei Minuten ist alles in Bewegung. Dazu orgelt die Jahrmarktsmusik so schmissig, dass allein schon deshalb die Pfalz pulsiert. Seit fünf Generationen bereits ist die Familie mit der Nostalgie-Reitschule unterwegs: zu Kerwen und Festen. Es dürfte das älteste Karussell der Pfalz – vielleicht auch Deutschlands – sein, das noch regelmäßig in Betrieb ist. Die 16 Holzpferde und das Etagenkarussell kommen aus einem berühmten Stall: 1883 hatte der Schlosser und spätere Fabrikant Fritz Bothmann in Gotha die erste Manufaktur für den professionellen Karussellbau und andere Jahrmarktsbelustigungen gegründet. Das Prunkstück der Familie Hartmann dürfte in den Anfangsjahren der Bothmann-Ära gefertigt und somit rund 130 Jahre alt sein. Bothmann baute später auch Straßenbahnen und Eisenbahnwaggons. Seine Karussells jedoch machten ihn weltweit bekannt. In der Hochzeit der Manufaktur waren es pro Jahr rund fünfzig verschiedene Exemplare, die ausgeliefert wurden. In Hamburg, Paris und London unterhielt die Firma Exportvertretungen. Im Angebot hatte Bothmann beispielsweise ein „Berg- und Thalbahncaroussel“, „die schwankende Weltkugel“, „Hänge- und Rudercaroussels“ und eben das „Etagencaroussel“. Das der Familie Hartmann dreht sich auch heute noch, weil es von den Südpfälzer Schaustellern liebevoll gehegt und gepflegt wurde. Das Geschäft haben inzwischen Tanja Hartmann und ihr Mann Tobias Stahl-Hartmann (beide 36) übernommen. Der Betrieb ist breit aufgestellt: ein Autoscooter, ein modernes Kinderkarussell, Flammkuchen- und Eisverkauf sowie Spielautomaten gehören dazu. Das Etagenkarussell freilich ist immer seltener im Einsatz – in diesem Jahr wird es nur bei acht Kerwen zu sehen sein. „Der Mindestlohn macht uns da auch zu schaffen“, sagt Stahl-Hartmann. Die anderen Fahrgeschäfte bringen eben mehr Umsatz. An diesem Wochenende dreht sich das Etagenkarussell allerdings – und dazu an seinem Lieblingsplatz: der Jakobuskerwe im Neustadter Ortsteil Hambach. Dorthin kommen die Hartmanns bereits seit über hundert Jahren: „Wenn wir hier aufbauen, ist es schon ein richtiger Hype, da kommen Leute vorbei und machen ein Foto.“ Rund eineinhalb Tage dauert es, bis das Karussell steht. Der Aufbau ist ein Riesenpuzzle: Stangen, Barockengel, Burgenbilder, Lampen und viele Glühbirnen, Dutzende Spiegel. Vieles sei noch originalgetreu, sagt Stahl-Hartmann. Ausgewechselt wurden aber die tragenden Teile, die waren früher aus Holz und sind jetzt aus Stahl. Einst spendeten Petroleumlampen Licht, heute sind es 110-Volt-Kugelbirnen. Für die hat Stahl-Hartmann zwar noch einen Lieferanten, aber er fürchtet, dass er irgendwann vielleicht doch auf LED-Leuchten umsteigen muss: „Das wird hoffentlich nicht zu kitschig.“ Bis 1927 wurde die Reitschule noch von echten Pferden gezogen. Heute besorgt ein Elektromotor den Antrieb. Der Dudenhofener Künstler Franz-Josef Bettag hatte 1989 einen Film über das Karussell für den „K3 Kulturkanal“ gedreht, dieses private TV-Programm war bis 2010 in Rheinland-Pfalz zu empfangen. In dem Film begegnet man Walter Hartmann, dem 1995 im Alter von 83 Jahren verstorbenen Großvater von Tanja Hartmann. Er schildert den damaligen Pferdebetrieb sehr anschaulich: „Die liefen im flotten Schritt, nicht im Trab.“ Alle drei Stunden sei das Pferd gewechselt worden. Die Reitschule war Hartmanns Stolz, ihm hört man in dem Film gerne zu. Beispielsweise, wenn er erzählt, dass die Pflege des Karussells einst noch aufwendiger war als heute: „Früher war an dem Karussell noch viel mehr Messing dran, das man jede Woche putzen und polieren musste.“ Viele alte Messingteile sind inzwischen durch Spiegel ersetzt worden. Sie fangen bei jeder Drehung auf wunderbare Weise und immer wieder neu die Außenwelt ein – den Dorfplatz, das Fachwerkhaus, den Ausschank. Die Innenwelt des Karussells spiegelt dagegen Glücksmomente: strahlende Kinderaugen, verliebte Blicke, verträumtes Nachdenken. Der Heimat- und Kulturpflegeverein „Die Hambacher“ sagt über das Karussell und die Jakobuskerwe: „Das mitzuerleben ist wie prickelnder Sekt, ist Lebenslust pur.“ Info —Jakobuskerwe Hambach: bis Dienstag. —„Das älteste Karussell der Pfalz“, Film von Franz-Josef Bettag, 1989, ausleihbar beim Landesfilmdienst, Standort Neustadt.

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