Kultur Heidelberger Sammlung Prinzhorn: Nachrichten aus Anderswelten

Arbeit von Gustav Sievers aus dem Jahr 1903. Eine Auswahl mit „Fahrradfantasien“ ergänzt die Kuratorenschau.
Arbeit von Gustav Sievers aus dem Jahr 1903. Eine Auswahl mit »Fahrradfantasien« ergänzt die Kuratorenschau.

Das kommt – offiziell zumindest – so gut wie nie vor: dass die Sekretärin des Museumschefs Bilder für die Ausstellung auswählt. In der international renommierten Heidelberger Sammlung Prinzhorn aber gehört Ingrid Traschütz jetzt zu den Verantwortlichen für eine Schau. Das ganze Team ist als Kurator angetreten, um „Neues und Unbekanntes“ aus der hauseigenen Kollektion mit Kunst von Insassen psychiatrischer Anstalten zu zeigen.

Im Eingangskabinett gleich hängt das Bild, das Vorlage für das Logo der Sammlung Prinzhorn wurde: Josef Forsters Luftgeher, auf Stelzen bewegt er sich federnd durch die Landschaft, wie schwerelos. Er scheint einen Mundschutz zu tragen. Ein Inbild des „Edelmenschentums“, das dem Tapezierer und Dekorationsmaler Forster für sich selbst vorschwebte. Auch als Sänger sah der Künstler sich. 1917 wurde er in die Regensburger Anstalt Karthaus-Prüll eingewiesen. Diagnose Halluzinationen. 1916 war ihm, wie es heißt, „wegen sexueller Verfehlungen“, die Jungfrau Maria am Bett erschienen. Seither pflegte er eine Extremform der Selbstversorgung ausschließlich mit seinen eigenen Körperausscheidungen. Ein Außenseiter unter Außenseitern. Selbst bei Psychiatern erregte er Aufsehen. Auch bei dem Kunsthistoriker und Heidelberger Assistenzarzt Hans Prinzhorn (1886 bis 1933), der zwischen 1919 und 1921 eine Sammlung von Kunstwerken und Aufzeichnungen von Psychiatriepatienten anlegte und Arbeiten des begabten Forster mit aufnahm. Sogenannte Outsider Art. Bilder von Menschen mit sehr speziellen Biografien und Schicksalen, die zeitweise, immer wieder oder sehr lange in psychiatrischen Anstalten gewesen sind, Notationen aus Anderswelten. Künstler wie Jean Dubuffet (1901 bis 1985) begannen sich früh für diese Art Kunst zu interessieren. Inzwischen wird sie hochpreisig gehandelt und bei internationalen Kunstausstellungen wie der Biennale in Venedig gezeigt. 2015 dort sogar prominent. Rund 6000 Werke umfasst die Sammlung Prinzhorn, die seit 2001 in Heidelberg öffentlich zugänglich ist und immer weiter wächst. Die Werke des historischen Teils stammen aus den Jahren 1840 bis 1945. Rund 16.000 neue Arbeiten sind seither dazugekommen. Mehrere Hundert allein in den vergangenen beiden Jahren. Die Sammlung, die dringend mehr Platz bräuchte, besteht aus Zeichnungen, Aquarellen, Briefen, Texten, Büchern, Heften. Auch Arbeiten auf Abfall-, Medikamenten- oder Tabak-schachteln sind darunter. Porträts von Otto O. etwa, dessen Biografie unbekannt ist, auf dünnem Toilettenpapier verewigt, so dass sie sich janusköpfig durchpausen. Sie sind jetzt Teil einer Ausstellung, bei der das Museumsteam den Prinzhorn-Bestand neu betrachtet. Museumstechniker und Archivarin, sie sind jetzt in Heidelberg Kurator/innen. Jede/r hat ausgewählt, was ihm gefiel oder ansprach. Die meisten Werke, viele Köpfe darunter, stammen aus dem Konvolut der Neuerwerbungen und wurden noch nie gezeigt. So, wie die Babotshka-Girls des 1962 in Mannheim geborenen Markus Bell, einem Doktor der Physik mit zusätzlich in Moskau abgeschlossenem Medizinstudium, der Ende der Nullerjahre in eine psychische Krise geriet. Er fing an, sich für Mode zu interessieren, und meldete – ohne kommerziellen Erfolg – das Patent für einen Badeanzug an. Museumsdirektor Thomas Röske hat zwei hochformatige Modezeichnungen von ihm ausgewählt. Zu betrachten ist einmal ein filigran gezeichnetes Model mit Alien-Kopf, das die Hände präsentiert, als trügen sie Stigmata. Das Girl ist mit einer Stola angetan, einer fantastisch-realistischen Rüstung, fetischhaften Stiefeln. Vier bunte Schmetterlinge umschwirren das Wesen, dessen Auftritt irritierend zwischen martialisch und mädchenhaft schillert. Die Wahl von Museumstechniker Torsten Kappenberg fiel unter anderem auf die selbstentworfenen Tauch- und Flugapparaturen des Erdarbeiters Heinrich Schäfer, der bei seinem Aufenthalt in der Anstalt Eickelborn in den Jahren 1919 bis 1920 als „unzulänglich veranlagt“ abgetan wurde. Aber auf seinen Zeichnungen imaginiert Schäfer sich als „König der Nacht“ und „Herrscher der Lüfte“ und lässt seiner Zeit voraus ein Passagierflugzeug zwischen Grönland, Spanien und der Anstalt Eickelborn verkehren – „von Ekelborn Abfahrt 3 Uhr 5 Minuten Abends“. Öffentlichkeitsarbeiterin Friederike Rauch entschied sich etwa für den 1964 entstandenen „Sonnengott“ von Elke von Schoor (1940 bis 2009) aus Traisa bei Darmstadt – ungeheuer fein ziseliert gezeichnet, strahlend und düster, thront er großköpfig auf einem Stuhl und lächelt indifferent und mit ausgehöhltem Blick. Archivarin Doris Noell-Rumpeltes zog derweil einen rot angelaufenen, leicht beunruhigenden Wüterich von Hans Wühr (1942 bis 1981) aus dem Depot. Von Wühr weiß man, dass er mit Mutter und Schwester aus dem zerbombten Berlin geflüchtet ist. Wie er, angelangt in einem bayerischen Dorf bei seinem aus der Gefangenschaft entlassenen Vater, fremdelnd, eintauchte in eine Fantasiewelt. „Nichts“ nannten er und seine Schwester ihr Universum aus Menschen, Tieren, Geistern, Halbwesen. Später, nach dem abgebrochenen Kunststudium in München und Wien, zog es ihn nach Paris, wo er es als freier Künstler versuchte. Er ging auf Reisen nach Marokko, nahm bewusstseinserweiternde Drogen und wandte sich der fernöstlichen Mystik und dem Schamanismus zu. 1965 fand ihn seine Schwester in der Pariser Salpetrière, wo er – nach einem Sturz in den Metroschacht als suizidgefährdet eingeschätzt – gelandet war. Zurückgekehrt nach München, begann Wühr seine Drehtürexistenz zwischen Psychiatrie und Familie. Um arbeiten zu können, setzte er die Psychopharmaka ab, meditierte, praktizierte Yoga. 1966 wurde sein Werk in der Galerie Carroll mit einer Einzelausstellung gewürdigt. Von 1973 bis 1976 war er Radierer in der Künstlerkolonie Worpswede. Im Mai 1981, in einer depressiven Phase, brachte er sich um. Es sind, neben den Werken, auch die Schicksale der Künstler/innen, die einen bei der Outsider Art berühren. Die Einschreibungen der Zeit. Wer will, kann auf die Idee kommen, dass zwischen Kunstschaffen und psychischen Erkrankungen ein Zusammenhang besteht, weil allein drei Künstler/innen während ihres Kunststudiums in eine Krise gerieten. Auch die politischen Verhältnisse griffen biografisch ein. Die Jüdin Hanna Hellmann zum Beispiel war eine Tochter aus gutbürgerlichem Haus. 1877 in Nürnberg geboren. Eine der ersten Frauen, die studierten. Sie promovierte in Zürich mit einer Arbeit über Heinrich Kleist. Sie setzte sich für das Frauenwahlrecht ein, dozierte am Seminar für soziale Berufsarbeit in Frankfurt, traf im Haus ihrer Schwester unter anderem Else Lasker-Schüler, Albert Schweizer und Martin Buber. Seit 1926 veränderte sie sich zunehmend, isolierte sich, wurde wunderlich. Damals begann sie wohl auch damit, Blumenpastelle zu malen. Mit Pastellkreide auf Butterbrotpapier. 1800 Blätter von ihr, bunt-bewegtes Geschehen darauf, sind seit 2016 Teil der Sammlung Prinzhorn und wegen ihrer Fragilität einer der schwierigen Fälle von Restauratorin Eva Fastenau. Jetzt hat sie eine Auswahl davon für die Kuratoren-Team-Schau ausgesucht. Die Arbeiten scheinen zeitweise Hanna Hellmanns letzte Verbindung zu ihrer Umwelt gewesen zu sein. Seelenarbeit. 1938 wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen. Am 14. Juli 1942, die Dokumente verzeichnen das genau, deportierten die Nazis Hella Hellmann zusammen mit anderen Patienten, Pflegern und Ärzten der jüdischen Heil- und Pflegeanstalt Jacobi in Bendorf-Sayn in das Vernichtungslager Sobibor nach Lublin. Dort wurde sie ermordet. Wie schön, dass ihre Bilder bis heute weiter leuchten. Infos —Schau „Das Team als Kurator – Neues und Unbekanntes aus der Sammlung Prinzhorn. Bis zum 15. April 2018 in Heidelberg, Voßstraße 2, dienstags und donnerstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr, mittwochs von 11 bis 20 Uhr geöffnet. prinzhorn.ukl-hd.de. —In Zusammenarbeit mit der IBA Heidelberg plant die Sammlung Prinzhorn den Umbau ihres Museumscafés. Dafür werden unter www.sponsort.de/projekt/54 noch bis zum 27. Dezember Spenden gesammelt.

Elke von Schoors „Sonnengott“, 1964
Elke von Schoors »Sonnengott«, 1964
Ein Werk „ohne Titel“ von Hans Wühr, einer Drehtürexistenz zwischen Psychiatrie und Familie abgerungen.
Ein Werk »ohne Titel« von Hans Wühr, einer Drehtürexistenz zwischen Psychiatrie und Familie abgerungen.
Werk von Le Voyageur francais, 1900.
Werk von Le Voyageur francais, 1900.
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