Rheinpfalz Der selige Zauber

Der Matrose im Ausguck der Santa Maria schreit „Land in Sicht!“. Beckenbauer wuchtet die Trophäe hoch. Adenauer umarmt de Gaulle. Auf dem vatikanischen Protzbalkon erscheint ein kerniger Kerl namens Franziskus. Im Wendegebrodel von Leipzig greift auf einmal der Spruch „Wir sind das Volk“ um sich. Die Bergleute von Lengede steigen aus der Rettungsbombe.Der Außenseiter David schnallt gerade, dass er dem Favoriten Goliath mit seiner Schleuder voll eine auf die Zwölf gegeben hat. Der Rütli-Schwur. Die Nationalhymne spontan im Bundestag nach der Vereinigung, auch aus den Mündern der linken Internationalismus-Verdächtigen. „Nun danket alle Gott“ – ebenfalls spontan– aus den Mündern der zurückgekehrten Kriegsgefangenen, auch der Atheisten unter ihnen. Und im Deckengemälde der Sixtina klatschen sich ab: Unser Urvater Adam und der Herrgott! Es wäre doch mal eine Idee, Glücksmomente aus Mythos und Geschichte zu sammeln. Wie Panini-Bildchen. Magische Strahle-Momente unter Göttern und Menschen. Und sind wir ehrlich: Von dieser Sorte erhoffen sich nicht nur die Fußballfreaks alle ein paar zu Beginn einer solchen Weltmeisterschaft. Was fürs innere Fotoalbum. Denn das Fußballspiel ist prädestiniert für den magischen Moment, auch wenn dieser dort – genau wie im richtigen Leben – manchmal in ödeste Langeweile eingebettet ist. Wir ersehnen den unerwarteten Augenblick, von dem ein Ruck ausgeht. Und danach muss dann die Luft brennen. Ein bestimmter Geist wehen. Das muss nicht unbedingt immer der Heilige Geist sein. Fußballmomente also: Maradona langt sich den Ball. Maracana leuchtet. Und Lichter gehen an in den Spielerköpfen. Der alte Ghiggia startet noch einmal seinen eigentlich nie wiedergekehrten Flankenlauf von 1950. Es müssen Minuten kommen, in denen die Werbeverträge egal werden, obwohl der Regen auf den Rasen trommelt und das Blut in den Schläfen. In denen sich die linken und die rechten Gehirnhälften der Spieler ineinander verlieben. Die Taktik knutscht die Spiellaune. Die Gehaltsvorstellungen vergucken sich in den Bock, zu kicken. Und siehe: Die Laktatwerte machen dem Mumm in den Knochen einen Heiratsantrag. Hoeneß raus, Bonhof rein. Kroos raus, Götze rein. Oder Netzer mit Matte wird noch mal eingewechselt. Und Helmut Rahn denkt in Minute 84 von Bern: Ich müsste jetzt einfach mal aus dem Hintergrund schießen. Odder de Briegel zieht iwwer links los odder iwwer rechts odder äfach genau durch die Mitt. Rennt mim Balle am Fuß an alle vorbei – immer gradaus – und knallt druf. Odder nadeerlich: De Fritz Walter (Tanzdribbel, Kickelstep, Hacke, Spitze) spielt em Ottes mit me sauwere Absätzje e sauweres Pässje ins Gässje un der macht de Balle trucke nin. Odder de Seppl Pirrung saat sich beim Stand vun 1:4 geje die Bayern: Jetzt is sowieso alles egal! Jetzt zieh ich ääfach emol ab. Wir wissen, was aus solchen Zaubersekunden herauswachsen kann an Phantasiewelten und später sehnsüchtig aufgesaugten Erzählungen. Und was in der Art sollte bitte dabei sein in den nächsten Wochen. Wenigstens Spurenelemente davon, denn das ist der Stoff, aus dem die Gutenachtgeschichten gemacht sind, die wir unseren Enkeln erzählen können. Und wenn dem Jogi nicht die Muffe geht, weil er denkt, der Philipp könnte vielleicht vor lauter Inspiration vergessen, hinten dicht zu machen, dann könnt’s klappen. Undenkbar phantastisch aber wäre es gewesen, wenn es dem brasilianischen Volk gelungen wäre, diese ganze von uns vergötterte Sportveranstaltung friedlich in die Tonne zu treten, weil es der Meinung ist, dass es in ihrem Land wichtigere Dinge zu tun gibt. Das täte uns Fußballnarren für den Moment zwar allen ein bisschen weh, wäre aber einer dieser welthistorischen Flashs, die es wert sind, von einem neuen Michelangelo an den Wänden eines unbenutzten Stadions verewigt zu werden.

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