Zweibrücken Wie Kerben im Tag

1997 hat der Saarländische Rundfunk das Hörspiel „Marthas Schlüssel“ produziert und gesendet. Seitdem wurde es von zahlreichen deutschsprachigen Sendern übernommen. Am Freitagabend lasen die Schauspielerin Silvia Bervingas und Autor Michael Dillinger, begleitet von Ulrich Kranz auf dem Akkordeon, das Kammerstück im Eiscafé Scheerer in Wattweiler. Es war ein rundum gelungener Abend, der die 22 Zuhörer begeisterte.

Martha ist alt. Ihr Mann ist unlängst gestorben. Sie hat Enkelkinder. Doch alt sein und Enkel haben macht einen nicht automatisch zu einer Großmutter. Einer Oma, die im Haus der Tochter lebt und mit den Kindern spielt. Einem Familienmitglied, nach dem „man schauen muss“, um das sich gekümmert wird und dem man sicherheitshalber die Wohnungsschlüssel abnimmt, weil man ja nie weiß, „was alles passieren könnte“. Also flüchtet sie. Zunächst in die Literatur. Doch diese kleine Fluchten sind der unkonventionellen Martha, die sich standhaft weigert, die Erwartungen an Menschen „ihres Alters“ zu erfüllen, bald nicht mehr genug. Um der wohlmeinenden Bevormundung durch die Familie dauerhaft zu entgehen, nimmt sie – gegen alle Widerstände – eine eigene Wohnung. Martha richtet sich ein in ihrem selbstbestimmten Leben und entwickelt einen eigenen Lebensrhythmus, denn „Rituale sind wie Kerben im Tag. Sie vertreiben die Einsamkeit“. Die Routine findet ein jähes Ende, als das Treppenhaus gestrichen wird. Der unbeholfene Malerlehrling Jürgen klingelt an ihrer Tür, um Wasser zu holen, und kurz darauf ist Marthas Wohnungsschlüssel verschwunden. Das macht die alte Dame, die gerade dem „Familienkäfig“ entflohen ist, erneut zu einer Gefangenen. Die Lösung scheint naheliegend, ist doch ihr Zweitschlüssel – wie das für Menschen ihres Alters sinnvoll ist – bei der Tochter deponiert. Doch diese Blöße will Martha sich nicht geben. Stattdessen täuscht sie einen Einbruch vor. Klar, dass die Polizei ihr daraufhin rät, das Schloss auszutauschen. Dass Jürgen, der Malerlehrling, in Verdacht gerät, nimmt Martha in Kauf. Schließlich erwarten ihn ja nur einige Verhöre, während ihr der lebenslange Freiheitsentzug droht. Außerdem ist er ja genau genommen an allem schuld. Der Zweibrücker Autor Michael Dillinger entwickelt sein „Marthas Schlüssel“ als Dialog zwischen Martha – eine Hommage an die Großmutter des Autors – und einer Autorfigur. Figur und Schöpfer treten in Kontakt, kritisieren sich, mahnen sich, schieben sich gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe oder werfen sich vor abzuschweifen. Ein selbstreflexives Spiel mit dem bekannten Motiv der „sich gegen den Autor auflehnenden Figur“, ein ironischer Blick auf die Konventionen traditionellen Erzählens und zugleich großartige Unterhaltung. Zärtlich, sorgend und verständnisvoll nähert sich Michael Dillinger seiner Martha an, hält sich zurück, lässt ihr Raum und bemüht sich, ihren Freiheitsdrang zu respektieren. Fast so, als wolle der Schöpfer die Figur für all die Übergriffe entschädigen, denen er sie schreibend aussetzt. Silvia Bervingas gelang es, sämtliche Charakterzüge der vielschichtigen Martha überzeugend in ihre Sprache zu legen: umwerfend ihre mädchenhafte Leichtigkeit und Koketterie bei Marthas Begegnung mit dem Malerlehrling Jürgen, den sie mit wiegenden Hüften und Rita-Hayworth-Gestik in die Küche führt, während sie sich fragt, ob er wohl gerade ihre „dünnen Säbelbeine“ betrachtet. Herrlich ironisch: Ulrich Kranz’ „Zwischenspiel“, der dazu passend „die Beine der Dolores“ besang. Doch auch die leisen und die schweren Töne kamen nicht zu kurz. Spröde und zerbrechlich zugleich verkörperte Bervingas die störrische, aufmüpfige alte Frau, die kompromiss- und manchmal auch rücksichtslos um ihre Freiheit kämpft, und ließ zwischen den Zeilen die Verzweiflung der Figur aufblitzen, die ihre Selbstbestimmtheit und somit ihre Würde behaupten will.

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