Kulturspiegel Musikfestspiele: Pasteten zu Wahrheit und Verstellung

Die Schlussarie aus Händels „Il Trionfo“ mit George Petrou am Pult. Links Anna Dennis, Violine spielt Elizabeth Blumenstock.
Die Schlussarie aus Händels »Il Trionfo« mit George Petrou am Pult. Links Anna Dennis, Violine spielt Elizabeth Blumenstock.

„The whole Truth about Lies“ (Die ganze Wahrheit über Lügen) in Schwetzingen, „Sarrasine“ und „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ in Göttingen.

Am 25. Mai gehen die diesjährigen Schwetzinger SWR Festspielen mit einem Musiktheater besonderer Art zu Ende. Ab 19 Uhr ist im Rokokotheater des Schlosses „The whole Truth about Lies“ (Die ganze Wahrheit über Lügen) mit dem Berliner Ensemble Nico and the Navigators (www.schwetzinger-swr-festspiele.de). Die innovative Truppe ist bekannt für ihre ausgefallenen Produktionen zwischen den Genres, zwischen Schauspiel, Tanz und Oper in einer ungewöhnlichen Optik mit pastoralen Momenten. Das Musiktheater über Wahrsager und Trugschlüsse wird dabei Musik zwischen Klassik, Jazz, Rock und Pop aufgreifen. Gerne machen Nico and the Navigators auch Projekte zu Barockmusik und zur Barockoper. In Halle traten sie schon mit Erfolg bei den dortigen Händel-Festspielen auf, in Karlsruhe bei den Händel-Festspielen hätten sie 2015 den „Teseo“ in Szene setzen sollen, wollten aber zu stark in die Vorlage eingreifen. Das, was sie heute Abend zeigen werden, ist nach barocker Diktion ein Pasticcio, also eine Pastete mit der neuen Verknüpfung vorhandenen Materials.

Just eine solche gab es in diesem Jahr bei den dritten deutschen Händel-Festspielen, bei deren „Mutter“ in Göttingen. Und aparterweise ging es dabei auch um richtig und falsch, um Wahrheit oder Verstellung. George Petrou, der griechische Dirigent und künstlerische Leiter der Festspiele an der Leine hatte in seinem dritten Jahr ein Pasticcio „Sarrasine“ kreiert. Dieses basiert auf einer Erzählung von Honoré de Balzac aus dem 19. Jahrhundert, in dem es um die unglückliche Liebe des Bildhauers Sarrasine zu einer betörend singenden Opernsängerin geht, die freilich keine Frau ist.

Bester Händel

Denn im barocken Kirchenstaat in Rom durften keine Frauen öffentlich singen. In den Opern übernahmen Kastraten die Partien der weiblichen Figuren. In George Petrous (musikalisches Arrangement) und Laurence Dales (Dialog-Arrangement) „Sarrasine“ wird nun der Stoff von Balzac mit einer Fülle von Arien und anderen Opernnummern von Händel verbunden, die in der Hauptsache aus kaum bekannten Alternativ-Nummern bestehen, die in den üblichen Versionen der Werke nicht gespielt werden. Petrou hat absolut Recht: Das ist in den meisten Fällen bester Händel - und der wirkt in einem dramatischen Rahmen einfach besser als quasi abstrakt in einem Konzertprogramm.

Das Projekt ist gelungen und bietet drei Stunden lang ein spannendes Musiktheater zwischen originaler Barockoper und deren späterer literarischer Reflexion. Es geht hier also weder um ein Mega-Spektakel, dass die Oper des frühen 18. Jahrhunderts mit ihren eigenen Mitteln überbieten will (das machte Jean-Louis Martinoty 1985 in Karlsruhe), noch um einen kritischen Blick auf die Alte Musik durch deren Verwendung für eine neue Geschichte (wie bei Sven Severins in der Tat arg schmerzlichen „Plagen“ von 2002 in Karlsruhe).

Spiel zwischen den Geschlechtern

Petrou und Dale gelingt etwas Neues und Eigenes, das großen Reiz hat. Die Wirkung des Abend wird durch die gelungene Präsentation des „Sarrasine“ mit George Petrou am Pult des Festival Orchesters Göttingen und Laurence Dale als Regisseur noch deutlich gesteigert. Die szenische Einrichtung ist ideenreich und lebendig, die musikalische Einrichtung bleibt dem Rang von Händels Stücken nichts schuldig. Star auf der Bühne ist in der Rolle der Zambinella der venezolanische Sopranist Samuel Marino, der betörend und überaus kunstvoll singt – und der das Spiel zwischen den Geschlechtern ebenso ernst wie sinnlich vergegenwärtigt.

Mit Myrsini Margariti und Juan Sancho zeigen sich zwei Stars der Barockszene unserer Tage in bester Form – und der Bass-Bariton Sreten Manojlovic ergänzt mit viel Präsenz das Vokalquartett. Drei Schauspieler des Deutschen Theaters Göttingen, in dem der „Sarrasine“ gezeigt wurde, sorgen für weitere szenische Akzente. Der Kammerchor der Uni Göttingen bewährt sich in den Chorteilen.

Lass die Dorne, folge der Rose

Eine dramaturgisch wichtige Rolle in „Sarrasine“ spielt die Arie „Lascia la spina, cogli la rosa“ aus Händels frühem Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, das 1707 für Rom entstanden ist. Es eröffnete die Festspiele in Göttingen am Tag vor der „Sarrasine“-Premiere in der renovierten Stadthalle in einer speziellen Form. Zum Spiel des auch hier fulminant agierenden Festival Orchesters Göttingen und dem Gesang der vier Solisten unter George Petrous Leitung kam ein szenisches Spiel mit Video-Einblendungen von Folkert Uhde (Bühne und Video) sowie Ilka Seifert (Regie). Das Stück wird ja gerne szenisch realisiert (so war es vor einigen Jahren am Nationaltheater Mannheim oder bei den Salzburger Festspielen). Die Version in Göttingen jetzt war erfreulich unaufdringlich und auf die Sache bezogen, so dass sie die musikalische Wiedergabe nicht beeinträchtigte, wohl aber sinnfällig unterstützte. Besonders die sagenhafte letzte E-Dur-Arie der bekehrten Schönheit mit dem ätherischen Gesang von Anna Dennis und dem berückenden Violinsolo von Konzertmeisterin Elizabeth Blumenstock war von tief berührender Wirkung.

George Petrou sorgte für viel Intensität und Spannung, gab aber zugleich auch den lyrischen Stücken eine wunderbare Anmut. Neben Anna Dennis, seit elf Jahren mit Recht ein gefeierter Publikumsliebling in Göttingen, glänzten in der grandiosen Aufführung auch Emöke Baráth als Vergnügen, Xavier Sabata als Wahrheit (Disinganno, wörtlich Ent-Täuschung) und Emanuel Tomljenovic als Zeit.

Gründungswerk einer Gattung

In Händels „Il Trionfo“ geht es also auch um Wahrheit und Trug – so wie heute in Schwetzingen. Zu den Künstlern, die dort schon mehrfach aufgetreten sind, gehört der Dirigent Nicolas McGegan, der einige Orchesterakademien leitete. McGegan war von 1991 bis 2011 der künstlerische Leiter der Göttinger Händel-Festspiele und kam in diesem Jahr in einer Art Vorkonzert im April einmal wieder an die Leine. Und das bei dem nun wirklich in Sachen Händel viel erfahrenen Musiker sogar mit einem Debüt für ihn: mit dem selten gespielten Oratorium „Deborah“, einer dem Gründungswerke für diese Gattung in der Händel’schen Weise. Der Meister hat es aus vielen bereits vorhandenen Stücken zusammengestellt, es ist also auch ein Pasticcio, eine Pastete.

Es ist eine besonders leckere, weil sehr prachtvolle, die mit einer opulenten Besetzung und mit vielen ausladenden Chören aufwartet. Am Pult der NDR Radiophilharmonie Hannover (trotz moderner Instrumente historisch bestens informiert) und zweier Hannoveraner Chöre entfaltete „Nic“ McGegan alle Facetten des aufregenden Stücks nach dem alttestamentlichen Stoff auf mitreißende Weise. Sherezade Panthaki sang die Titelrolle mit dramatischer Intensität, als Barak glänzte der junge Countertenor Hugh Cutting und sehr erfreulich war es, die herrlich singende Amanda Forsythe einmal wieder in Europa zu hören. Franziska Gottwald und Andres Foster-Williams waren weitere Garanten einer spektakulären Händel-Interpretation.

Die nächsten Göttinger Händel-Festspiele sind vom 16. bis 25. Mai 2025 (www.haendel-festspiele.de).

Szene aus dem Pasticcio „Sarrasine“ mit einem Auftritt von Samuel Marino als Zambinella (Bildmitte).
Szene aus dem Pasticcio »Sarrasine« mit einem Auftritt von Samuel Marino als Zambinella (Bildmitte).
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