Neustadt Völlig neue Klangerfahrung

Was für ein Festival-Auftakt: Das „Ensemble 1800“ spielte Franz Schuberts berühmte „Unvollendete“ auf eine ungewohnte, aber unge
Was für ein Festival-Auftakt: Das »Ensemble 1800« spielte Franz Schuberts berühmte »Unvollendete« auf eine ungewohnte, aber ungemein stimmige Weise, die sie in die Nähe Beethovens rückte.

«Neustadt». Mit zwei musikalischen Schwergewichten aus der Feder Franz Schuberts, der berühmten h-Moll-Sinfonie und der letzten Messe in Es-Dur, eröffneten das „Ensemble 1800“, der Neustadter Figuralchor und eine Solistenriege unter Leitung von Fritz Burkhardt am Sonntag das Alte-Musik-Festival „Neustadter Herbst“ in der Stiftkirche. Es war ein interpretatorischer Paukenschlag, ein echtes musikalischen Highlight und ein Abend mit interessanten musikalischen Einsichten.

Schubert und Alte Musik – wie passt das denn zusammen? Das werden sich sicher viele Konzertbesucher im Vorfeld gefragt haben. Tatsächlich ließe sich darüber trefflich streiten, wo denn die Alte Musik aufhört. Vor noch nicht allzu langer Zeit begann sie mit Minnesang und „Ars Nova“ und endete mit Johann Sebastian Bach. Fritz Burkhardt beabsichtigte mit diesem Konzert nun aber, Schubert klanglich in die Nähe seiner Vorgänger zu rücken, anstatt ihn, wie so häufig, in die Romantik zu stecken. Es ging an diesem Abend also nicht um die Richtung, die Schubert kompositorisch eingeschlagen hatte, sondern um die Tradition, aus der er kam. So erklärt sich auch der Titel des Eröffnungskonzerts: „Unvollendete Revolution“. Nehmen wir es gleich vorweg: Es war eine tolle Idee, die dem gesamten Abend etwas Besonderes und Außergewöhnliches verlieh. Eine verhältnismäßig kleine Orchesterbesetzung und „alte“ Instrumente, unter anderem gebundene Bässe, gaben der ohnehin ergreifenden, unvollendeten h-Moll-Sinfonie dieses unerwartet andere Gepräge. Zunächst fiel das Tempo auf: Der Dirigent ließ es sehr ruhig angehen, und bald zeigte sich auch, wie umsichtig diese Tempowahl war: Der bekannt lange Hall der Stiftkirche hätte spätestens bei den Generalpausen störend gewirkt. Die Haltepunkte der (Natur-)Hörner standen geradezu quälend lang und hochpräsent im Raum. Die Bremswirkung dieses charakteristischen Moments im ersten Satz ist selten so intensiv musiziert worden. Das Holz und das Blech wurden durch die Akustik der Kirche besonders beleuchtet, und so klang der sonst so vertraute Schubert neu und spannender denn je! Da leuchteten neue, unerwartete Farben auf, und das leichte Übergewicht der Bläser rückte Schubert deutlich näher an Beethovens sinfonisches Schaffen, als man das sonst gewohnt ist. Die faszinierenden Dissonanzen über dem Orgelpunkt H traten satt in den Vordergrund und verliehen der Sinfonie, die leider oft eher verzärtelt wird, etwas Erschütterndes. Man denke auch daran, dass diese Musik das Werk eines Mittzwanzigers ist! Das „Ensemble 1800“ lieferte hier nicht nur eine große Leistung ab, es bot gleichsam eine interessante und faszinierende Deutung einer sattsam bekannten Musik. Nachdem die letzten Töne verhallt waren, trat kurz eine fast ehrfürchtige Stille ein. Dann applaudierte das Publikum schon hier begeistert. Schuberts letzte Messe in Es-Dur kennt man ebenfalls in großer Besetzung. Ein Chor von gut 100 oder mehr Stimmen und ein Orchester, das für die sechste Tschaikowski-Sinfonie geeignet wäre, so gibt es die Messe meist zu hören. Man hat sich an diesen Klang gewöhnt, und das Ohr erwartet dieses massive Klangbild instinktiv. Und auch hier ging Burkhardt gezielt gegen diese – durchaus unreflektierte – Hörgewohnheit vor. Der „Neustadter Figuralchor“ und das leicht abgespeckte „Ensemble 1800“ fanden auch hier eine Klangsprache, die sofort aufhorchen ließ. Erstaunlich, dass der Chor trotz des immensen Halls die Fugati akkurat herausarbeiten konnte und stets transparent blieb. Der Dirigent schaffte es, mit Orchester und Chor derart beeindruckenden Crescendi zu erzeugen, dass dem Publikum förmlich der Atem stockte. Der Anfang des Credo, ein Chorpianissimo mit Paukenbegleitung, geriet zu einem der Konzertmomente, die all denen, die dabei waren, noch lange in Erinnerung bleiben werden. Ebenso beeindruckend die mächtigen Posaunenfanfaren und die kraftvollen Tutti. Wohl durch die umsichtige Leitung und die „kleine“ Besetzung, gestalteten alle Beteiligten diese Musik emotional äußerst intensiv. Schuberts letzte Messe, geschrieben in den Monaten vor seinem Tod, hat der Meister, wie einige andere Kompositionen seines Spätwerks, selbst übrigens nie gehört. Die bereits erwähnte Solistenriege, als da wären: Sabine Goetz (Sopran), Anne-Kathrin Herzog (Alt), Marcus Ullmann und Thomas Jakobs (beide Tenor) sowie Peter Kubik (Bass), versah ihren Dienst ohne Fehl und Tadel. Allerdings ist diese Messe nicht auf Solisten, sondern auf den durchgehend präsenten Chor zugeschnitten. Wollte man partout Unterschiede zwischen den durchgehend gut aufgelegten Solisten aufzeigen, so fielen Sabine Goetz und Thomas Jakobs durch besonders engagierte Vorträge auf. Nach den Finaltakten des Agnus Dei hielten die Zuhörer noch einmal den Atem an, wie um dem eben Gehörten nachzuspüren. Dann feierte das Publikum die Musikerinnen und Musiker und besonders den musikalischen Leiter Fritz Burkhardt. Der Wermutstropfen eines großartigen Abends war, mal wieder, der respektlose Teil des Publikums, der sich gleich zu Beginn des Applauses auf den Heimweg machte. Alle anderen Anwesenden zollten der famosen Leistung des Ensembles den verdienten, großen Beifall. Was für ein Festival-Auftakt!

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