Neustadt Nichts ist mehr, wie es war

Vor zwei Monaten ist zwischen Edigheim und Oppau eine Ferngasleitung explodiert. Von dem Unglück besonders betroffen ist die Jakob-Scheller-Straße. Die Menschen mussten ihr Zuhause verlassen, einige konnten inzwischen zurück. Trotzdem ist nichts, wie es war.

Die Jakob-Scheller-Straße geht Dieter Honacker jeden Tag entlang. Seit 40 Jahren lebt er hier, seit zwei Monaten ist alles anders. Er schließt die Eingänge zur eingerüsteten Wohnanlage auf, hinter denen karge, staubbedeckte Flure und Treppenhäuser sind, der Boden und die Stufen mit einem grauen Vlies geschützt. Er öffnet die Türen zu den Wohnungen, die entkernt sind, wie im Rohbau. Honacker ist der Mann, der immer da ist, von 7 Uhr am Morgen bis 22 Uhr abends. Er ist Hausmeister. Momentan ist er Manager, die Schnittstelle zwischen Anwohnern, Architekten und Baufirmen. Der Mann mit dem Schnauzer ist der Koordinator des Neuanfangs in der Straße, die bei der Gasexplosion zwischen den Stadtteilen Edigheim und Oppau verwüstet worden ist. „Ich bin abgehärtet, habe in der BASF gearbeitet und einige Einsätze mitgemacht“, sagt er. Realisiert, was passiert ist, hat Honacker, verstanden aber nicht, geschweige denn verarbeitet. Durch das Fenster in seinem kombinierten Wohn- und Esszimmer sah er einen der schwer verletzten Arbeiter durch die Luft fliegen, der Mann brannte und wälzte sich im Gras. Die Bilder haben sich eingeprägt, sind stets präsent. Honacker war am 23. Oktober, dem Unglückstag, gegen Mittag vom Frankfurter Flughafen zurück, seine Frau war mit einer Freundin zu einem Zwei-Tages-Trip nach Istanbul aufgebrochen. Er setzte sich an den Tisch, hatte sich ein Brot geschmiert. Er ging noch mal in die Küche, weil er etwas vergessen hatte. Dann ein lauter Knall, den Honacker als den plötzlichen Riss in der Pipeline identifiziert. Das Erdreich kam durch das mit Hochdruck ausströmende Gas in Bewegung, Steine und Geröll flogen in die Höhe und auf die Hausfassade zu, durchschlugen Scheiben. Sekunden später entzündete sich das explosive Luft-Gas-Gemisch. Honacker sprang zum Fenster, wollte den Rollladen herunter lassen. Die Hitze der etwa 60 Meter hohen Fackel verbreitete sich, ließ den Kunststoff schmelzen. Vor knapp zwei Wochen konnten das Ehepaar Honacker als eine der ersten Parteien zurückkehren. Neue Fenster wurden eingebaut, alles gereinigt. „Es ist alles ein bisschen durcheinander“, sagt die Frau. In Gedanken sind sie auch bei den beiden Bauarbeitern, die durch die Explosion ihr Leben verloren, und bei den beiden Schwerverletzten. Dieter Honacker öffnet die Tür einer Kellerwohnung. Warme, stickige Luft strömt heraus, die beiden Trocknungsgeräte wummern. Jeden Tag sammeln sie noch immer zehn Liter Wasser im Auffangbehälter. An Einzug ist hier noch lange nicht zu denken. Bei der Explosion ist eine Wasserleitung geborsten, hat die Zimmer mit Wasser und Schlamm geflutet. Der Mann, der hier wohnt, hat sein Hab und Gut ausgeräumt, die Situation nicht verkraftet. Er liegt in einer Klinik, ein Neuanfang ist auch Kopfsache. Am 16. November wurde Dieter Honacker 65 Jahre alt. Zum halbrunden Geburtstag wollte er ein großes Fest in der griechischen Heimat seiner Frau feiern. „Der Plan ist geplatzt“, sagt sie. Das Ehepaar, dem es der Süden angetan hat, hatte sich eine kleine Oase hergerichtet. Mit Palmen aus Griechenland und von der Balearen-Insel Ibiza, einem jungen, exotischen Kaki-Baum und einem großen Feigenbaum. „20 Jahre alt, in diesem Jahr habe ich 25 Kilo geerntet“, sagt Dieter Honacker. All das ist zerstört. Und auch die Weinreben, die über dem Eingang wuchsen, hat das Inferno nicht verschont. Der materielle Verlust mag verschmerzbar sein, der ideelle ist es kaum. „Alles war so schön grün“, sagt Ulla Honacker, auch die große Freifläche gegenüber der Wohnanlage. Das macht das Leben in der Stadt ländlich. Sie ist eine temperamentvolle Frau, die ständig durch die Wohnung wuselt. Aber wenn es um den Tag des Unglücks geht, wird sie nachdenklich – obwohl sie überhaupt nicht vor Ort war. Oder gerade deshalb. „Warum?“, fragt sie immer. „Warum muss so etwas passieren?“ Die Ungewissheit, wie es ihrem Mann geht, als sie von der Katastrophe erfahren hat, war schrecklich. Sie prescht mit Tränen in den Augen aus dem Wohnzimmer ins Bad. „Ich hätte es nicht verkraftet, wenn ihm etwas passiert wäre.“ Ihr Mann hatte beim Verlassen des Hauses in der Hektik das Festnetztelefon statt des Handys eingesteckt und war zunächst nicht zu erreichen. Er wartete bei dem schwer verletzten Arbeiter auf den Notarzt, sammelte dann seine „Schäfchen“, die Anwohner, um sich. Durchzählen, niemand fehlt. Später wurde er von seinen Angehörigen gefunden und kam für die ersten Nächte bei seiner Schwester, dann in einer Gästewohnung des Roten Kreuzes unter. Honacker wusste, dass er in der Folgezeit des Unglücks gefordert sein würde. Der Granittisch in seiner Küche ist sein Büro, dort liegen stapelweise Pläne und Unterlagen. „Die Leute kennen mich, sie vertrauen mir“, sagt er. Vor der Wohnanlage steht Inge Brodbeck. Die Seniorin hielt ihr Mittagsschläfchen, als es im Oktober knallte. Honacker kommt hinzu, das Handy am Ohr. Es geht um die neue Einrichtung der Wohnung. „Ich möchte Muster“, sagt die Dame, „Ahorn, Erle und Eiche hell.“ Die Möbel in ihrer Wohnung sind mit einem beißenden Gestank versehen. Aber sie möchte sich nichts einbauen lassen, was sie nicht vorher gesehen hat. Der Zusammenhalt der Menschen in der Straße ist besser geworden. „Sie lieben sich fast wieder“, sagt der Hausmeister. Das war nicht immer so. Das Unglück hat die Jakob-Scheller-Straße und die Menschen dort verändert. „In ein paar Jahren ist wieder alles wie früher“, sagt Ulla Honacker, „alle wollen einfach wieder rein und ihr gewohntes Leben aufnehmen.“ Bei einer der zerstörten Palmen ist im Ansatz ein kleines, neues Blatt zu erkennen. Das gibt dem Paar Hoffnung, Und sie sind sicher: Auch die Rebe über dem Eingang wird wieder austreiben.

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