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Kirrweiler. „Sportlich“ nannte Bezirkskantor Simon Reichert sein Programm in Kirrweiler. Tatsächlich war das „Vivaldi-Fieber“ betitelte Konzert in der Pfarrkirche Kreuzerhöhung, – sein dritter Auftritt in Kirrweiler binnen vier Tagen – ein großes Unterfangen, das dem Organisten einiges abverlangte, aber auch von den Zuhörern viel Konzentration forderte. Reicherts Kompletteinspielung des Bach’schen Orgelwerks in diesem Jahr ist damit zugleich in der Halbzeit angelangt.

Das erste, was beim Hören auffiel, waren Melodieführungen, die für das Instrument Orgel nicht unbedingt typisch sind, wie etwa sehr schnelle, anhaltende Tonwiederholungen. Auch der Wechsel von Solostimmen und orchestralen Tutti-Teilen war in der Entstehungszeit um 1714 so noch nicht verbreitet. Spannend zu hören waren hoch virtuose Solostimmen. Reichert registrierte durchweg mit einem kräftigen, farbigen Grundton, der aber noch genügend Transparenz zum Verfolgen der Stimmführung ließ. Solostimmen und Tutti kamen gut zur Geltung. Reicherts Interpretation ließ die ursprünglichen Orchesterwerke mitklingen. Was aber waren diese „ursprünglichen“ Werke und warum heißt der Abend „Vivaldi-Fieber“? Auf dem Programm standen Orgelwerke, die Johann Sebastian Bach nach Konzerten von Antonio Vivaldi geschrieben hat. Der italienische Meister hatte 1711 den Zyklus „L′Estro Armonico“ (Die harmonische Eingebung) veröffentlicht, eine Serie von Konzerten für Violinen, Violoncello und Streichorchester. Mit diesen zwölf Werken erregte Vivaldi in ganz Europa Aufsehen und etablierte damit eine Form des „Concerto“, die das Genre fortan prägen sollte. Gemeint ist die konsequente Aufteilung von Solo und Tutti und die Anlage in drei bis vier Sätzen, bei denen die Anfang- und Schlusssätze eher schnell, die Mittelsätze ruhiger sind. Das griffen so viele zeitgenössische Komponisten auf, dass manche Musikhistoriker vom „Vivaldi-Fieber“ sprechen. Bach hat von Vivaldis großem Coup recht schnell Wind bekommen und sich Abschriften besorgt. Seit 1708 war er Hoforganist in Weimar am Hof des Herzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar. Dort gab es auch ein Orchester, das vorzugsweise italienische Konzerte spielte. Man weiß von Bach, dass er sich Zeit seines Lebens musikalisch weiterbildete. Eine seiner bevorzugten Methoden war das Transkribieren. Heißt das nun, er hat Vivaldis Konzerte einfach aus der Partitur abgeschrieben und in die drei Notensysteme für rechte, linke Hand und Pedal übertragen? Das hätte Bach als „Affenmethode“ abgelehnt. Stattdessen war die Transkription für ihn ein Mittel, Vivaldis Werke genau zu verstehen und mit diesem Verständnis eine Übertragung auf sein Lieblingsinstrument Orgel zu schaffen. Da waren zuerst einmal praktische Probleme zu lösen, wie etwa der Tonumfang. Manche Passagen musste Bach deshalb in andere Lagen umschreiben. Eine eher musikalische Herausforderung war es, bestimmte Spielweisen der Streicher für Orgel zu „übersetzen“. So fordert Vivaldi im C-Dur Konzert „détaché“ und will von Streichern klare Tontrennung durch Ändern des Bogenstrichs. Bach verkürzt dafür die Notenwerte. Streichertypisch ist auch, wie im d-Moll Konzert eine leere Saite als Pedalton mitzuspielen – während der Violinist hier nichts greifen muss, muss der Organist dafür noch „Finger übrig“ haben. Weitere musikalische Eingriffe Bachs sind zusätzliche Harmonien oder Linien, die das vorhandene harmonische Material deutlicher machen. Böse Zungen behaupten, dass Bachs Bearbeitungen mehr nach Vivaldi klingen als Vivaldis Originale. Reichert spielte mit Schwung durch das Programm. Offenbar ist er durch seine Konzertreihe zum gesamten Orgelwerk Bachs gut im Training. Wer als Hörer versuchte, Stimmführungen zu folgen, Klangfarben mit der Orchesterfassung zu verbinden und Charakteristika der Originalinstrumente herauszuhören, konnte das in Reicherts Interpretation auch schaffen – aber die schiere Masse des anspruchsvollen Programms forderte extreme Konzentrationsfähigkeit. Das Publikum ließ sich davon aber nicht stören und feierte Reicherts in jeder Hinsicht bemerkenswerte Leistung mit stehendem Applaus.

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