Neustadt Festwochenende in Neustadt: Wir sind Demokratiestadt

Stimmungskanone Monji El Beji von der Band Woifeschdkänisch beim Bad in der Menge.
Stimmungskanone Monji El Beji von der Band Woifeschdkänisch beim Bad in der Menge.

Zu Beginn schüttet es wie aus Eimern, und so mancher befürchtet schon, dass das Fest der Demokratie buchstäblich ins Wasser fallen könnte. Doch als der Himmel aufreißt, feierten Stadt, Bürger und Gäste unter dem Motto „Europa – gelebte Solidarität“. Ein Rundgang durch die Innenstadt am Samstag.

„Ich bin schon ein bisschen geknickt, weil wir alle zwei Jahre auf den Moment hingearbeitet haben“, sagt Oberbürgermeister Marc Weigel, während er mit vielen anderen im Durchgang zum Rathaus Schutz vor dem prasselnden Regen sucht, der den Marktplatz am Samstagmittag zeitweise unter Wasser setzt. Als der Wettergott es nach knapp einer Stunde Dauerregen besser mit den Neustadtern meint, wirken alle gelöst. Weigel nutzt bei der Eröffnung die Gelegenheit, um auf der Bühne an die Werte der „wahren Nachfahren des Hambacher Fests“ zu erinnern: Verantwortungsbewusstsein, Gestaltungswille und Engagement für eine positive gesellschaftliche Entwicklung.

Dass Demokratie in Neustadt vielfältig gelebt wird, unterstreichen die zahlreichen Stände, Kulturbeiträge und Aktionen, die über die Innenstadt und das Hambacher Schloss verteilt stattfinden. Zum Beispiel die Führung der „Junior Memory Guides“ vom Hetzelplatz aus. Drei Erwachsene sowie vier Kinder und Jugendliche lassen sich von zwei Schülerinnen des Leibniz-Gymnasiums, Magalie Winter und Maria Weken, zu Orten führen, die etwas über das Schicksal der Neustadter Juden im Dritten Reich aussagen. Zum Beispiel die Postbank am Hauptbahnhof, in der Gauleiter Joseph Bürckel ein Presseamt für die Nazipropaganda einrichten ließ, das alte Finanzamt, in dem die Gestapo Menschen folterte, oder die Kik-Filiale in der Hauptstraße, in der früher das jüdische Kaufhaus Wronker war. Die Zehntklässlerinnen zeigen Bilder von damals, als der Marktplatz noch Adolf-Hitler-Platz hieß und darauf Bücher verbrannt wurden.

Magalie Winter und Maria Weken (von links) eröffnen als „Junior Memory Guides“ Perspektiven auf die Verfolgung von Juden in Neus
Magalie Winter und Maria Weken (von links) eröffnen als »Junior Memory Guides« Perspektiven auf die Verfolgung von Juden in Neustadt im Dritten Reich.

Zu viel Freiheit?

Die 16-Jährigen schaffen es, mit Mitmach-Elementen zum Nachdenken anzuregen: Brauchen wir heute noch politische Lieder? Warum ist die Deutschlandfahne Schwarz-Rot-Gold? Und kann es vielleicht zu viel Freiheit geben? „Das Tolle ist: Wir haben gegensätzliche Meinungen und diskutieren trotzdem miteinander“, sagt ein Teilnehmer, und seine Frau ergänzt zur Tour: „Ich finde es einfach gut, dass junge Leute so etwas machen.“

Am Nachmittag lichten sich die Wolken und strahlender Sonnenschein sorgt für reges Treiben auf der „Meile der Solidarität“ in der Laustergasse. Während die CDU am Kriegerdenkmal Popcorn verteilt, haben Grüne und FWG Quizfragen zum Thema Demokratie vorbereitet. Zu gewinnen gibt es Preise wie ein kostenloses Eis beim Eissalon de Rossi. Der Stand der SPD findet sich etwas weiter, auf dem Juliusplatz. Dort wird auch für Kinder einiges geboten, so zum Beispiel eine Hüpfburg und ein Clown. Viel Spaß scheinen die Kleinen auch beim Kinderschminken und beim Dosenwerfen am Stand der Klimaaktion zu haben.

Kinderprogramm auf dem Juliusplatz: Hannah Heil lernt von Clown Giovanni Teller zu balancieren.
Kinderprogramm auf dem Juliusplatz: Hannah Heil lernt von Clown Giovanni Teller zu balancieren.

Klima und Ängste

Letztere hat sich vor allem das Thema nachhaltige Mobilität auf die Fahne geschrieben und einen „Mobilitäts-Wahl-O-Mat“ vorbereitet, der zeigt, wie sich die einzelnen Parteien zum Beispiel zum Ausbau von Fahrradwegen positionieren. Rainer Bill und Moritz Jada gehen mit Besuchern ins Gespräch. Zum Demokratiefest, wolle man aufzeigen, dass Klimaschutz essenziell sei, um die Demokratie zu schützen. „Der Klimawandel trifft die Ärmsten am härtesten“, erklärt Jada. „Deren berechtigten Ängste können von Faschisten ausgenutzt werden.“ Klimaschutz nutze aber auch den Menschen direkt. „Weniger Autos bedeuten weniger Lärm und Abgase, was die Stadt viel lebenswerter machen würde“, so Bill. Das Potenzial Neustadts möchte man mit sogenannten Parkingdays, das nächste Mal am 7. September, aufzeigen. „Auf Parkflächen könnten stattdessen Pflanzen wachsen oder Bänke stehen.“

Wer sich vor der Europawahl noch einmal über das EU-Parlament und dessen Aufgaben informieren möchte, der ist beim Stand der „jungen Europäer“ genau richtig. Die Jugendorganisation der Europa-Union erklärt, was die EU alles leistet. „Ohne Europa haben die einzelnen Länder keine Chance, ihrer Probleme Herr zu werden“, sagt die Landesvorsitzenden Rheinland-Pfalz, Annika Sinner. „Themen wie Geflüchtete oder die Klimakrise müssen auf EU-Ebene geklärt werden.“ Deshalb wolle man die Menschen parteiübergreifend zur Wahl animieren.

„Europa ist Zukunft“

Sehr aktiv zeigen sich die „Omas gegen Rechts“. Statt an ihrem Stand zu verweilen, ziehen einige der Aktivistinnen durch die Fußgängerzone und verteilen Flyer. Neben ihrem Stand haben sie eine mehrere Meter große Pappwand platziert, an die jeder seine Meinung zum Thema Demokratie anpinnen kann. „Wir sind der Überzeugung, dass Europa die Zukunft ist“, sagt Aktivistin Christa Maggauer. Die Strömungen, die Europa infrage stellten, seien meist auch gegen die Demokratie eingestellt. „Diesen Rechtsruck finde ich sehr beunruhigend. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich in meinem Alter noch mal für die Demokratie auf die Straße gehen muss“. „Politik ist nicht nur etwas für Parteien“, sagt Pfarrerin und Bildungsbeauftragte Martina Horak-Werz . Jeder sei gefragt, sich für den Erhalt unserer Demokratie einzusetzen.

Sehr gut besucht sind die Stände der Neustadter Partnerstädte. Diese haben allerlei lokale Spezialitäten im Angebot: In Wernigerode gibt es Likör, in Mâcon Wein und Gebäck, in Mukatschewo Süßwaren, beim Freundeskreis Mersin-Yenisehir unter anderem Baklava, in Lincoln Gin, in Echt-Susteren Käse, Bier und Marmelade. Bei der Volkshochschule kann man mit Muttersprachlern in fünf Minuten Sprachen lernen, egal ob Türkisch, Französisch, Italienisch oder Niederländisch. Sich vorstellen und die Demokratie feiern klappt tatsächlich mit ein bisschen Übung in wenigen Minuten.

Partnerstädte präsent

Für Erfrischung sorgen die Stadtwerke am Elwetritschebrunnen, die gleich einen ganzen Tanklaster voll kaltem Mineralwasser sowie ein Glücksrad dabei haben. Zu gewinnen gibt es neben Malbüchern und Quietscheenten auch einen Gutschein für das Stadionbad. Während die Besucher sich auf dem Marktplatz mit Rieslingschorle und Currywurst verpflegen und der ein oder andere Waghalsige sich vom Glockenturm der Stiftskirche abseilt, wird es auf der Bühne ernst: Bei der Talkrunde der Partnerstädte berichtet Julia Taips, Vizebürgermeisterin von Mukatschewo, über die momentanen Zustände in der Ukraine. Trotz der Kämpfe und der vielen Toten bleibe sie optimistisch: „Ich glaube an die Zukunft der Ukraine; wir sind ein freies und demokratisches Land. Ich bin stolz auf unsere Bürger, die trotz ihres Leids nicht aufgeben.“

Auch die Bürgermeister der Partnerstädte Mersin-Yenisehir, Echt-Susteren, Lincoln, Mâcon und Wernigerode berichten, wie in ihren Heimatstädten Demokratie täglich gelebt wird. OB Tobias Kascha (SPD) aus Wernigerode betont die Wichtigkeit der Bürgerbeteiligung und des gemeinsamen Dialogs. „Nur so sind wir ein starkes Bollwerk für die Demokratie.“ Im Anschluss sorgt Musiker Achmet Bakan aus Mersin-Yenisehir für musikalische Unterhaltung. Von Ukrainern aus Mukatschewo wird eine Tanzchoreographie und ein Theaterstück geboten.

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