Ludwigshafen Die Obszönität des Massenmords

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Als nur mittellanger Essayfilm über einen bildenden Künstler passt „Die Kunst des Boris Lurie“ gleich aus mehreren Gründen nicht so ganz zur sonstigen Programmauswahl beim Festival des deutschen Films. Die Dokumentation des Mannheimer Autors, Regisseurs und Produzenten Rudij Bergmann ist in der Reihe „Lichtblicke“ zu sehen.

Ein wenig regionale Filmförderung darf sein. Festivaldirektor Michael Kötz ist Präsident der Freien Akademie der Künste Rhein-Neckar, Rudij Bergmann einer der Vizepräsidenten. Der Film sei aber nicht deswegen im Programm, erklärte Kötz, sondern „weil ich ihn so toll finde. Es ist ein kleines kongeniales Reinklettern in die Arbeit von Boris Lurie.“ Lurie, 1924 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geboren und 2008 in New York City verstorben, ist für Bergmann „einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts“. Ein jüdischer Collagist und Maler, dessen Werk viel mehr Beachtung verdiene und in die großen Museen gehöre. Im Zentrum der Arbeit des von Dadaismus, Fluxus und Concept Art beeinflussten Künstlers steht der Holocaust, den Lurie in einen verstörenden Kontext aus Pornografie, Konsum und Politik stellte. Lurie, der selbst im Ghetto von Riga und in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, kontrastierte Bilder der Judenvernichtung und der Kriegsgräuel mit Werbeanzeigen, Zeitungsausschnitten und zur Schau gestellten weiblichen Körpern. Die Aufnahmen von Leichenbergen und KZ-Häftlingen collagierte er zum Beispiel mit Pin-up-Fotos. Die Sprache seiner Bilder, die auf den Zusammenhang von Sex, Macht, Reichtum und politischem Opportunismus verweisen, ist skandalös und riskant, weil es leicht ist, sie auf das Obszöne zu reduzieren. Lurie selbst verwies darauf, dass ihn die Pin-ups an die Massengräber erinnerten, in denen die Nazis die Ermordeten verscharrten. Der Film steht in Korrespondenz zur Ausstellung „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“, die im Berliner Jüdischen Museum bis 31. Juli zu sehen ist. Stärker geprägt erscheint die essayistische Dokumentation jedoch von Bergmanns persönlichen Begegnungen mit Lurie, den er im Oktober 1996 erstmals traf, um ihn in seinem damaligen SDR-Kunstmagazin „Bergmannsart“ vorzustellen. Bergmann beschreibt Lurie als Künstler, der überall und nirgends zu Hause war, als einen Menschen, der mitten in Manhattan Heimweh nach Europa hatte. „Als ich seine Atelierwohnung betrat, eine atemberaubende Collage der Erinnerung, da war mir klar, dass er die Konzentrationslager, die er gemeinsam mit seinem Vater überlebte, mental niemals ganz verlassen hatte“, erinnerte sich Bergmann. Die alten Fernsehaufnahmen über Lurie sind in den Film eingebaut und ergänzt durch Statements von ZKM-Direktor Peter Weibel und des Avantgarde-Filmers Aldo Tambellini. „Mein Film versteht sich als Dialog zwischen allen Beteiligten, den Lebenden wie den Toten“, sagte Bergmann. „Kunst, die immer nur gleich interpretiert wird, ist nicht im Diskurs. Aber ich will, verdammt noch mal, dass Lurie in diesen Diskurs reinkommt!“ Nach Ansicht des 72-Jährigen ist es seine Aufgabe als Filmemacher, andere Möglichkeiten aufzuzeigen als die Kunsthistoriker, die sich der Wissenschaft verpflichtet fühlen. Termine Beim Festival läuft der Film heute um 22.30 Uhr, am 26. Juni,15 Uhr, und am 1. Juli, 22.30 Uhr.

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