Kreis Südwestpfalz Milch ausverkauft, Luft verseucht

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Hamsterkäufe in Bioläden und ein Gefühl der Ohnmacht: Südwestpfälzer erinnern sich an jenen Tag vor 30 Jahren, als in Tschernobyl die radioaktive Wolke ihren Weg über Europa nahm.

Fünf Jahre vor der Reaktorkatastrophe am 26. April 1986 hatte Manfred Nafziger den ersten Hof in der weiteren Region bei Dellfeld auf Bio umgestellt – inklusive eines Hofladens, der in den Tagen nach dem Reaktorunfall überrannt wurde von Kunden. „Da sind massenhaft Leute gekommen, die von der Ernte des Vorjahres kaufen wollten. Die haben mich leergekauft“, erzählt der Biolandwirt. Seine eigene Landwirtschaft sei nicht betroffen gewesen. Die Aussaat war kurz zuvor erfolgt und das Gemüse noch lange nicht so weit, dass sich Salatköpfe gezeigt hätten, die von radioaktivem Regen verseucht worden wären. 30 Jahre nach dem Reaktorunfall ist Nafziger frustriert. „Die Leute haben nicht so viel gelernt“, meint der Biolandwirt im Hinblick auf jüngste Wahlergebnisse. „Wenn ich sehe, wie gegen Wind und Biogas gemotzt wird und gleichzeitig kein Mensch weiß, wo der Atommüll hin soll“, so Nafziger. „Man könnte mehr machen.“ Der damalige BUND-Kreisvorsitzende und Betreiber des Pirmasenser Naturkostladens, Kurt Langguth, war zum Zeitpunkt des Unfalls im Urlaub in Südfrankreich. „In Frankreich war kein Wort in den Zeitungen. Wenn ich zu Hause anrief, herrschte aber Riesenpanik“, erinnert sich Langguth. Regelrechte Hamsterkäufe habe es in seinem Naturkostladen gegeben. Milch sei sofort ausverkauft gewesen. Kunden, die zuvor mit 500 Gramm Mehl nach Hause gingen, hätten plötzlich 25-Kilosäcke bestellt. „Das war ein richtiges Scheißgefühl“, erinnert sich Langguth an seine persönliche Situation und die damals überall vorenthaltenen Informationen. „Das hat uns gezeigt, wie macht- und schutzlos wir gegen solche Technologien sind.“ „Also jetzt hört es auf“, dachte sich in den Tagen nach Tschernobyl der heutige Grünen-Politiker Hermann Schulze. Zum Zeitpunkt des Unfalls sei er noch nicht in der Partei gewesen, nur ein bisschen „ökologisch angehaucht“, erzählt Schulze. Ohne jede Info über die Gefahren, sei er in den Tagen nach dem Unfall am Rhein spazieren gegangen mit seinem gerade erst geborenen Sohn. „Die Luft war hoch radioaktiv. Das hat uns aber keiner gesagt“, ärgert sich Schulze heute noch. „Wir fühlten uns von der Politik verarscht.“ Der Reaktorunfall in der Ukraine sei ein wichtiger Grund für ihn gewesen, sich mehr politisch zu engagieren. „Die Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen, weil es vorher geregnet hat. Das geht doch nicht.“ Schulze sieht trotz Atomausstieg der Bundesregierung noch immer eine große Gefahr durch die Atomkraft. Und die Politik habe nicht viel gelernt, wie die jüngsten Sicherheits-Manipulationen in Kernkraftwerken zeigten. Eine der ersten in der Region, die sich für die extrem betroffenen Menschen in Weißrussland engagieren wollte war die Heltersbergerin Monika Stuppy. In dem Verein „Pfälzische Kinderhilfe nach Tschernobyl“ half die Südwestpfälzerin Hilfstransporte in die Region zu organisieren und Kinder zur Erholung in die Südwestpfalz zu holen. „Es war plötzlich alles still und die Vögel sind nicht mehr geflogen“, so habe ihr eine Lehrerin aus Weißrussland von den Tagen nach dem Unfall erzählt. Die Regierung habe behauptet, die radioaktive Wolke sei abgeschossen worden, was jedoch blanker Unsinn war. 1998 war Monika Stuppy selbst mit einem Hilfstransport in Weißrussland. „Ich habe viele Tiere mit Missbildungen gesehen.“ Die Helfer hatten einen Geigerzähler mitgenommen, der extrem ausgeschlagen habe – zwölf Jahre nach der Katastrophe. „Es war total chaotisch.“ Das ganze Volk sei vom Staat im Stich gelassen worden, so ihr Eindruck. (kka)

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