Cannes Der unendliche Jean-Luc Godard, der 2022 starb

Jean-Luc Godard erklärt seinen Film, natürlich mit Zigarre und mit zitternder Stimme.
Jean-Luc Godard erklärt seinen Film, natürlich mit Zigarre und mit zitternder Stimme.

Er war ein Kulturregisseur. Was das bedeutet, kann man nirgendwo sonst so spüren wie beim Festival von Cannes. Nachdem im Vorjahr dort die letzte Arbeit von Jean-Luc Godard (1930-2022) zu sehen war, der 20-minütige Trailer „Film annonce du film qui n’existera jamais: Drôles de guerres“, ist nun ein neuer, letzter Film von ihm und ein Erklärfilm dazu mit ihm aufgetaucht – vom Vortag seines freiwilligen Todes. Innerhalb einer Minute waren die Karten für die einmalige Vorführung vergriffen!

„Seit zehn Jahren bringe ich die Filme von ihm hierher“, sagte sein Freund, der Regisseur Fabrice Aragno (54), „und die Leute fragen mich: den letzten Godard? Ich sage, nein, den neuen Godard! Aber nun ist wirklich der letzte. Am 12. September 2022, war ich bei ihm und er hatte den zweiten Teil des Films auf den Knien. Er hat Erklärungen geben, wie er sich alles vorstellt. Wie so oft, haben wir das mitgefilmt, und dann verabschiedet – und am nächsten Tag war er tot.“

18 Minuten lang ist „Scénarios“ (Drehbücher), 34 Minuten die Erklärungen dazu, die schon im Oktober 2021 entstanden. Wie alle seine Film in den letzten 20 Jahre ist „Scénarios“ eine Collage aus literarischen, filmischen und philosophischen Zitaten, die er in einem Gedankenfluss zusammenbringt und weiterspinnt. In diesem Fall geht es um Bilder, darum, was sie bedeuten und um den Tod – indirekt auch um seinen eigenen, denn alle Godard-Filme sind mehr oder weniger Autoporträts.

Ikonische Bilder

Man sieht für Godard typische ikonische Bilder wie einen Soldaten mit Maschinengewehr, der einen Fluss durchquert, einen Mann mit großer Filmkameralinks vorm Auge und ein Pferd. „Ein Pferd zu benutzen um zu illustrieren, dass ein Pferd kein Pferd ist, ist weniger effizient als ein Nicht-Pferd zu benutzen, um zu illustrieren dass ein Pferd kein Pferd ist“, zitiert er Sartre. Und das gleich zweimal.

Im Grund sieht man zwei Scénarios à neun Minuten mit fast identischen Bildern, also zwei mögliche Versionen eines Films. Natürlich sind auch Filmschnipsel drin. Beim letzten Zitieren taucht Godard überraschenderweise taucht selbst auf: im Bett sitzend, mit offenem Hemd, das den Bauch zeigt, seine langen grauen Haare, die Brille, die ziemliche vielen Altersflecke, schließlich war er 91, als der Film entstand. Sein letztes Wort in einem Filmwelt ist: „Okay“. Man kann wie immer spekulieren, was er alles damit meint.

Seite für Seite geht Godard durch sein Drehbuch.
Seite für Seite geht Godard durch sein Drehbuch.

Dann gibt es den zweiten Film, in dem der 92-jährige an seinem Arbeitstisch sitzt, mit Hemd und Pullover drüber, zuweilen eine dicke Zigarre rauchend, wie man ihn von früher kennt, und in seinem 20-seitigen Bilderbuch blättert, dem Drehbuch zu den „Scénarios“. Seite für Seite geht er das Buch im Din-A5-Format durch. Es sind Seiten vollgeklebt mit Bildern aus Filmen, von Personen, mit Selbstgemaltem, mit Autorennamen als Gedächtnisstützen, auch voll ausformulierte Zeilen stehen in seiner sehr deutlichen Handschrift auf einem wunderschön strukturierten, handgeschöpftem Papier.

Als er meint, eine Seite einfügen zu müssen, wird das zum Kraftakt, weil er das passende Papier nicht mehr, ein Ersatzpapier nimmt und zuschneidet, das ihm Fabrice Aragno vorschlägt. Er stellt Godard zwischendurch auch Fragen, wenn ihm etwas unklar ist, die geduldig beantwortet werden. Noch nie hat es einen so schönen und für jedermann verständlichen Film gegeben, in dem Godard erläutert, wie er Filme macht, welche Schauspielerin er sich vorstellt, wenn etwas neu gedreht werden soll, wie er Fotos von Gemälden in die Filme bringt, wie er mit Farbe umgeht, wie mit Einblendungen.

Wirklich der letzte Film?

Aber wer weiß, ob es wirklich sein letzter Film ist. Vielleicht findet seine Lebensgefährtin, die Regisseurin Anne-Marie Miéville (78) oder auch Aragno noch andere fertige Drehbücher, die sie dann posthum verfilmen. Irgendwie scheint es undenkbar, dass Godard nicht in der einen oder anderen Form weiterlebt.

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