Kreis Germersheim Razzia mündet in gnadenlosem Terror

Hagenbach. Am 12. Juni 1912 heirateten Rosalia Abraham aus dem nordpfälzischen Börsborn bei Glan-Münchweiler und der Manufaktur- und Wollwarenhändler Alwin Arthur Vollmer, Spross eines seit 1821 in Hagenbach beheimateten jüdischen Viehhändlerclans.

Elf Monate später kam in ihrem Anwesen an der Ludwigstraße, gegenüber der Hagenbacher Synagoge, Stammhalter Kurt zur Welt. Dann zerstörte der Erste Weltkrieg das Familienglück: Im Herbst 1917 erhielt Vollmer, Soldat einer Maschinengewehreinheit, bei Ban de Sapt (Frankreich) einen tödlichen Kopfschuss. Zur Trauer um den Gatten gesellte sich nun die Sorge um den vierjährigen Sohn und die Existenzsicherung. Um ihre karge Kriegerwitwenrente aufzubessern, eröffnete die 30-jährige in ihrem Wohnhaus einen Gemischtwarenhandel. „Hauptartikel waren Schnitt- und Kurzwaren jeglicher Art“, die ihr monatlich etwa 150 Reichsmark einbrachten. Im April 1919 beantragte sie Kurts vorzeitige Einschulung. Die Zustimmung erfolgte „ausnahmsweise mit Rücksicht auf die besonders gelagerten Verhältnisse der Frau und der geistigen und körperlichen guten Entwicklung des Sohnes“. Ende der 1920er Jahre wählte Kurt Vollmer nach väterlichem Vorbild den Kaufmannsberuf. Als geschickte Näherin erweiterte seine Mutter ihr Verkaufssortiment. Allerdings erlaubte die geringe Kaufkraft ihrer örtlichen Kunden nur ein bescheidenes Leben. Den einzigen freizeitlichen „Luxus“, den sich die Witwe gönnte, war die Mitgliedschaft im 1921 gegründeten Musikverein „Rheingold“. Das im März 1933 errichtete nationalsozialistische Regime veränderte alles: Diskriminierende Verbote und Vorschriften zielten auf die gesellschaftliche Isolierung und wirtschaftliche Schwächung der Juden ab. Rosa Vollmer bekam die Auswirkungen des NS-Rassismus schnell zu spüren. Der „immer stärker werdende Boykott“, erinnerte sie sich, hatte ihren „Gewinn für die Jahre 1933 bis einschließlich 1937 um mindestens 50 Prozent reduziert, bis im Jahre 1938 eine wirtschaftliche Betätigung erst tatsächlich und schließlich rechtlich völlig unmöglich wurde“. Ihr Vereinsausschluss zeigte die wachsende soziale Ächtung. Geschäftlicher wie privater Kontakt mit Juden war allgemein verpönt. Umso leichter konnte man Kurt Vollmers Besuch bei einem Berger Hausierhändler durch infame Zutaten skandalisieren. Gestützt auf die Denunziation einer spitzelnden Nachbarin wurden beide - sachlich haltlos - der „widernatürlichen Unzucht“ bezichtigt und Anfang 1936 wochenlang inhaftiert. Demoralisiert von unablässiger Überwachung, übler Nachrede und antisemitischer Hetze, die niederste Instinkte bediente, emigrierte der 24-jährige Kurt nach Nordamerika. Seit Oktober 1937 lebte er in Newark (New Jersey, USA). Unter dem Eindruck des Pogroms vom 10. November 1938 entschloss sich auch seine Mutter, das Land zu verlassen. Entsetzt hatte Rosa Vollmer die Schändung der Synagoge verfolgt, als am späten Nachmittag die eigentliche „Judenaktion“ begann. Auf Weisung der NSDAP-Kreisleitung sollte die SA alle ortsansässigen Juden im Ratszimmer des Bürgermeisteramtes festsetzen und dann abschieben. Die als Verhaftungs- und Vertreibungsaktion mit begrenzten Sachschäden geplante Razzia mündete rasch in gnadenlosen Terror. Teils einträchtig, teils in beutegieriger Konkurrenz widmeten sich SA-Angehörige, „normale“ Bürger, Halbwüchsige und Westwallarbeiter dem Verhaften, körperlichen und seelischen Misshandeln, dem Demolieren und Rauben.Zuerst flogen Steine gegen Vollmers Haus. Daraufhin, berichtete die 51-jährige, „öffnete ich das Fenster“ und sah eine bedrohliche Menschenmenge, so dass „ich mein Nötigstes zusammenraffte und in die hinteren Zimmer verschwand“. Nach Einbruch der Dunkelheit „sind die Nazis in meine Wohnung in Hagenbach eingedrungen. Die Eindringlinge standen unter Anführung des Försters Wirth“. Diese hätten „Fenster und Türen eingeschlagen und verschiedene Einrichtungsgegenstände im Wohnzimmer und der Küche zertrümmert“, darunter „eine Nähmaschine, Wandspiegel, Lampen und Geschirr“. Ferner seien Waren aus dem Laden entwendet worden. Aufs Rathaus geschleppt, drohte der Witwe und den übrigen Juden noch lange Gefahr durch den fanatisierten Mob, der – laut Vollmer – „uns im Suff umbringen wollte“. Die 17 Betroffenen standen unter Schock: „Ich sowie alle anderen waren so abgestumpft, dass uns alles egal war“. Ein SA-Mann bemerkte, „dass Verschiedene geweint haben“. Offenbar fand Vollmer am frühen Abend, vor ihrer Internierung im Rathaus, für einige Zeit Schutz bei ihrem über die Vorgänge empörten Nachbarn Gustav Sollinger und dessen Sohn. Nachträglich hörte sie, „dass die Sollingers die Westwallarbeiter und Nazis aus meiner Wohnung vertrieben, mit eigenen Ohren“. Am nächsten Morgen erlaubte ihr der NSDAP-Ortszellenleiter Wirth, vor der Abschiebung einige Habseligkeiten aus dem Haus zu bergen, dessen Schlüssel er bereits verwahrte. Nach einem Tritt des eskortierenden SA-Mannes Josef Stuppert in ihren Rücken stürzte sie und verletzte sich erheblich im Gesicht. Neun Jahre später leugnete dieser die Tat. Wie ihre drei Jahre jüngere ledige Schwägerin Emma Vollmer wohnte Rosa Vollmer seither in der Karlsruher Kaiserstraße 34a.

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