Kreis Germersheim Habe 1500 Todesnachrichten überbracht

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Herr Butz, zuerst die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo, dann der Absturz der Germanwings-Maschine und schließlich der zweite schreckliche Terroranschlag in Paris. War 2015 eigentlich ein Jahr der Katastrophen?

Ich glaube, die Katastrophen waren diesmal nur näher bei uns. Flugzeugabstürze haben wir immer wieder, diesmal hat es eben ein deutsches Flugzeug getroffen. Hinzu kommt, dass es dieses Mal kein technischer Defekt war, kein fahrlässiges Unglück. Wenn ein Absturz bewusst von dem Verantwortlichen herbeigeführt wird, ist das schon noch mal eine andere Nummer. Was ist anders für Angehörige, wenn so ein Unglück bewusst herbeigeführt wird? Menschen erfahren höhere Belastungen, wenn Katastrophen, die über sie hereinbrechen, von Menschen gemacht sind. Solche Ereignisse sind nicht kontrollierbar, das Gefühl der Ausweglosigkeit ist besonders hoch. Eine Bekannte von mir war in Paris in einem der Cafés, das von den Terroristen angegriffen wurde. Sie hat nach der Attacke Erste Hilfe geleistet und ist dadurch im Nachhinein besser mit dem Ereignis zurechtgekommen, als Freunde von ihr, die sich gleich am Anfang in ein Hinterzimmer geflüchtet und dort versteckt haben. Es gibt drei Dinge, die besonders geneigt sind, sogenannte akute Belastungsreaktionen auszulösen: Das ist erstens die wahrgenommene eigene Lebensbedrohung. Zweitens die Lebensbedrohung eines Angehörigen und drittens ausgeprägte Hilflosigkeit, also der angesprochene Kontrollverlust. Wenn ich einer Situation aktiv etwas tun kann, also zum Beispiel Erste Hilfe leiste, nehme ich keine Hilflosigkeit mehr wahr. Ich kann etwas machen und vergesse vielleicht sogar die akute Gefahr. Damit entfällt ein wichtiges Element, das zu Traumafolgestörungen führen kann. Was ist denn unmittelbar nach einem solchen Erlebnis wichtig? Belastungsreaktionen sind normale Reaktionen von normalen Menschen auf abnormale Ereignisse. Das zu verstehen ist entscheidend. Als Helfer muss man zuhören und den Menschen helfen das einzuordnen, sie müssen wissen: Ich werde jetzt nicht verrückt, weil ich nur noch überall Gespenster sehe, oder weil ich Tränen in die Augen bekomme, wenn ich unter Leute gehe. Das sind normale Belastungsreaktionen, die sich in einem überschaubaren Zeitraum wieder verflüchtigen. Wie lange dauert das? Diese akuten Symptome halten in der Regel nur ein paar Stunden bis oft drei, vier Tage an. Solange kann man zum Beispiel nach einem schlimmen Unfall Schreckensbilder vor Augen haben und deswegen Angst haben, die Augen zu schließen. Diese grellen, farbigen Bilder werden in der Regel innerhalb von Tagen immer blasser. Irgendwann kann man dann sagen: Bild, jetzt nicht. Was sollten Angehörige von traumatisierten Personen auf jeden Fall beachten? Ich erinnere mich an eine Familie, die ich nach der Gasexplosion in Harthausen betreut habe. Die hat nicht weit weg vom Unglücksort gewohnt. Der Ehemann lag im Wohnzimmer, hatte den Rollladen halb offen und das Fenster gekippt. Er hat gedöst und plötzlich hat es einen Schlag getan, ein grellweißer Feuerball kam auf ihn zugerast und das Haus hat gewackelt. Der Mann hat sofort Lebensgefahr verspürt und hatte tagelang mit dieser Situation zu kämpfen. Seine Frau hat im Schlafzimmer geschlafen und hat weder von der Erschütterung noch von dem Feuerball etwas mitbekommen, sondern nur den Knall gehört. Die hatte eine völlig andere Wahrnehmung von der Situation und dementsprechend ging es ihr viel besser. Was haben Sie Ihr geraten? Wichtig war, dass sie akzeptiert hat, dass ihr Partner völlig durch den Wind ist, obwohl sie selbst das Ereignis gar nicht als Bedrohung wahrgenommen hat. Dann habe ich ihr erklärt, dass es hilft, wenn sie mit ihrem Mann spricht. Es heißt nicht umsonst, sich etwas von der Seele reden. Das hilft, weil man durch die Gespräche einen Abstand zu der Situation herstellen kann. Das Gehirn versucht am Anfang, einen dauernd in Alarmbereitschaft zu halten und versteht erst mit der Zeit, dass die Gefahr vorbei ist. Unglücke wie in Harthausen sind die Ausnahme, was ist Ihr tägliches Geschäft? Ich hatte dieses Jahr schon über 60 Einsätze. Die meisten waren plötzliche Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Arbeitsunfälle und leider auch Suizide. Wir werden auch bei Unfällen mit Schwerverletzten verständigt, wo die Prognose ungünstig ist. Wir holen Angehörige von Zuhause ab und fahren mit ihnen ins Krankenhaus. Sehr oft beginnen unsere Einsätze aber auch schon mit dem Überbringen einer Todesnachricht. Da sind wir bei den Betroffenen der Auslöser der Katastrophe. Da haben wir uns schon oft mit Fachleuten gestritten, die sagen, der Überbringer schlechter Botschaften ist der Feind. Das ist völliger Quatsch, eine Theorie, die durch nichts belegt ist. Ich habe in meinen 21 Jahren sicher 1500 Todesnachrichten überbracht und in keinem Fall wurden wir als die Aggressoren angesehen. Im Gegenteil. Wie helfen Sie den Angehörigen? Wichtig ist, dass jemand da ist, der Ruhe mitbringt, der bereit ist, still eine solche grauenhafte Situation durchzustehen. Außerdem muss man die Leute ernst nehmen. Wenn jemand nach dem Suizid eines Angehörigen sagt: Ich bin schuld. Da bringt es nichts zu sagen: Sie sind nicht schuld. Dann lasse ich ihn mit seinem Schuldgefühl alleine. Entschulden kann man sich nur selbst. Also sage ich: Ich nehme wahr, Sie fühlen sich schuldig, das tut mir sehr leid. Ich hoffe, dass Sie irgendwann einen Weg finden, damit umzugehen. Was macht das mit einem selbst, 1500 Todesnachrichten zu überbringen? Wir gehen immer zu zweit zu Einsätzen und kennen uns gegenseitig so gut, dass wir spüren: Das war hart für meinen Partner. Ich weiß auch schon vorher, der kommt mit entstellten Toten nicht so gut klar und den nehme ich nicht mit, wenn ich mir vor Ort Gewissheit verschaffen will, bevor ich zum Beispiel zu den Eltern fahre. Wichtig sind auch eine solide Ausbildung und die Erfahrung. Von den 62 Einsätzen in diesem Jahr gibt es eine ganze Reihe, nach denen ich nach Hause kommen und den Einsatz mit der Jacke abstreifen konnte. Mir fallen aber auch drei, vier Einsätze ein, die hochbelastend waren. Brauchen Sie Auszeiten? Ja, das habe ich schmerzhaft lernen müssen. In einer Phase, in der ich viele Einsätze gemacht habe, kam mal so ein dicker Brocken, der mir sehr zugesetzt hat. Danach war ich vier Wochen krank. Ich konnte mir nicht erklären, warum, heute weiß ich: Der Körper hat Stopp gesagt. Wenn ich heute merke, der Schlaf ist nicht mehr so gut, oder es stört mich, wenn die Alarmmeldung rein kommt, dann sage ich: Leute, lasst mich mal in den nächsten Wochen in Ruhe. Das haben die alten Hasen gelernt. Lerne ich es nicht, gehe ich kaputt.

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