Kaiserslautern Eine Stimme für die Verlorengegangenen

Schon vor der Eröffnung war der mediale Wirbel um die weltweit größte Einzelausstellung mit Arbeiten des chinesischen Künstlers Ai Weiwei groß. Jetzt, wo „Evidence“ zu sehen ist, sollte es um die Kunst gehen, die der 56-jährige Regimekritiker neu für die Schau im Berliner Gropius-Bau (18 Räume, 3000 Quadratmeter) geschaffen hat. Es zeigt sich: Sie ist nicht vom Menschen zu trennen.

Es gibt Leichteres, als derzeit unbefangen über Ai Weiwei zu schreiben. Allein der „Tagesspiegel“ als eines der hauptstädtischen Leitblätter hat dem Künstler in kurzer Folge drei Aufmacher gewidmet. Zum Presserundgang senkte sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters höchstselbst in den Lichthof des Gropius-Baues. Medienhype und Hyperventilation im fließenden Übergang. Das Ganze ist janusköpfig: Ai Weiwei, der Dissident, scheint sich aktuell vor Ai Weiwei, den Künstler, zu schieben wie manchmal der Mond vor die Sonne; und bekanntlich wird es bei solchen Konstellationen mitten am Tage ziemlich finster. Es war vielleicht kein Zufall, dass eine der substanzielleren Fragen zur Eröffnung sinngemäß, wenn auch feiner formuliert, lautete: Was würde uns der Mann noch bedeuten, wenn er unter normalen demokratischen Bedingungen arbeiten könnte? Die andere Seite ist freilich, dass er sich die aktuellen chinesischen Verhältnisse, die für ihn erniedrigende (und beispielsweise im Ausreiseverbot auch weiter wirkende) Maßregelungen brachten, nicht ausgesucht hat. Er verarbeitet die Schikane in einer Weise – bitter-ironisch, empfindsam, manchmal auch fast selbstzerstörerisch zynisch, mit alledem aber vor allem: brutal ehrlich –, die seinen Fall, über die eigene Person hinaus, zum Gleichnis erlittener Willkür, geistiger Unterdrückung und Bevormundung macht. Angesichts dessen erscheint eine rein formalästhetische Debatte nicht nur engherzig, sondern schlicht fehlplatziert. Handschellen, fein aus Jade ziseliert; der exakte Nachbau jener Zelle, in der er 81 Tage lang zum Verschwinden gebracht worden war (samt den vier Überwachungkameras, mit denen sich nun die Besucher selbst observiert und widergespiegelt sehen); ein Video, in dem er eben diese Gefängniswochen als finster-skurriles Pop-Spektakel nachinszeniert: Da gibt einer mit sehr differenzierten Mitteln, aber immer solchen, die nur er hat, in der Reflexion des eigenen Erleidens auch anderen Verfolgten eine Stimme – und schützt mit dieser Öffentlichmachung, die das Regime durch dessen eigene Werkzeuge bloßstellt, nebenbei vielleicht (hoffentlich?) auch sich selbst vor weiteren, krasseren Repressalien. So wird Konzeptkunst, in deren Tradition sich Ai Weiwei sieht, zur unmittelbaren Aktion. Doch selten ist sie vordergründig. Ai Weiwei agiert meist mit einer stillen, oft verrätselt-hintersinnigen Verhaltenheit: Zu seinen Vorbildern zählt er den magisch leisen italienischen Stilllebenmaler Giorgio Morandi. Nur wenige der kaum mehr als 30 meist großformatigen Objekte, mit denen er (oder besser: seine Crew) nebst einigen Videos die ganze Beletage des Museums bespielen, lassen sich so direkt erschließen wie die oben aufgeführten Verarbeitungen seiner Haftzeit. Die meisten brauchen entschlüsselnde Kommentare, von denen der hoch engagierte Kurator (sowie Haus-Chef und gelernte Sinologe) Gereon Sievernich freimütig bekennt, dass entscheidende Handreichungen dafür vom Künstler selbst kamen. Nur so erschließt sich auch ein chaotisch zusammengeschütteter, agonaler und gleichwohl lecker dreinschauender Haufen von in Porzellan nachgeformten Flusskrabben als wortspielende Auseinandersetzung mit dem offiziellen chinesischen Propagandagerede, da die Begriffe „Flusskrabbe“ und „Harmonie“ eine ähnliche Lautgebung haben. Und nur so erfährt man, dass hinter der prollig-aufdringlichen Autolackierung von acht an eine Baumarkt-Kollektion erinnernden Großvasen jahrtausendealte Originale aus der Han-Dynastie stecken – konserviert unter der Oberfläche ironischer Respektlosigkeit. Was wohl, nach den Jugendjahren „kulturrevolutionärer“ Sippen-Verbannung und der schockartigen Begegnung mit der westlichen Moderne, ohnehin Ais Verhältnis zu den eigenen Kulturtraditionen bezeichnet. Im Gropius-Bau demonstriert er das, diesmal ganz ironiefrei, nicht zuletzt mit einer in ihrer Massierung brachialen, aber dabei ebenso trauer- wie liebevollen Versammlung von Modernisierungsopfern: 6000 alten, zu Müll degradierten Holzschemeln, die den gesamten Lichthof zustellen. Und das ist dann vielleicht das Letztentscheidende: Dass seine Stimme, unabhängig vom eigenen Schicksal, immer dem Peripheren und Ausgesonderten, den Schwachen, Verlorengegangenen und Geopferten gehört: Erzählungen, Dingen oder – meist – Menschen wie den in ihren Schulen begrabenen Kindern beim Erdbeben von Sichuan 2008. Und wenn er in Berlin lebte, um die oben gestellte Frage versuchsweise zu beantworten, fände man ihn wohl auch eher als Dokumentarist der Verdrängung alter Sozialgefüge durch die Gentrifizierung oder zwischen den Asylbewerberzelten auf dem Oranienplatz denn als saturiert das eigene Ansehen verwaltenden Akademie-Lehrer: unter entspannteren Bedingungen, aber kaum weniger wichtig.

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