Grünstadt Unschärfe-Relationen

Vor 70 Jahren befreiten russische Soldaten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Unter anderem im Deutschen Bundestag wird mit Gedenkveranstaltungen daran erinnert. Dabei werden auch Fotos des Landauer Künstlers Martin Blume gezeigt. „Auschwitz. Heute“ heißt sein Projekt. Das Buch dazu, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, wird heute im Mainzer Landtag vorgestellt.

„Arbeit macht frei“, der Schriftzug. Das Eingangsgebäude. Die schneebedeckten Gleise. Die Haare. Die Brillen. Die Prothesen. Koffer mit weißer Schrift, „Petr Eisele. Kind“. Die Auschwitz-Bild-Ikonen sind bis zur Unsichtbarkeit und Empathie-Lähmung allgegenwärtig. Anschauungsmaterial für moralische Selbstvergewisserungen. Aufnahmen eines Ortes, der für Massenmord steht und für den Vernichtungskrieg der Nazis gegen Juden, Polen, Sinti und Roma, Gefangene aus Russland, Schwule, gegen Außenseiter der sogenannten „Volksgemeinschaft“. Auschwitz-Birkenau ist ein Kürzel für den Holocaust. Ein böses Weltkulturerbe. Der Landauer Martin Blume bewegte sich fünf Jahre lang auf symbolisch vermintem Gelände, visuell abgetastetem Gebiet. Immer wieder. „Auschwitz. Heute“, sein Fotoprojekt musste die 200 weltberühmten dokumentarischen Fotos zweier SS-Männer mitdenken. Und die Schüler-Selfies im Kinderblock, die auf Instagram gepostet werden. Wie gut, dass Martin Blume, studierter Psychologe und einer der besten Schwarzweißfotografen überhaupt, warten kann, stundenlang. Tage. Manchmal geht er ohne ein Bild nach Hause. Er friert, denn mit Vorliebe entstehen seine Aufnahmen im Winter. Er harre so lange aus, bis ein Foto, das Foto, sich quasi selbst auslöse, sagt er selbst. Psychofotografie nennt er seine metaphysisch verschatteten Lichtbilder. Klingt esoterisch. Was es bedeutet, ist leicht zu erkennen, wenn man sie sieht. Erst im Herbst ist Blumes „Verdun. 100 Jahre danach“, ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Franzosen Emmanuel Berry, als Buch herausgekommen. Noch so eine Todeszone, die der Einfühlungsvirtuose fotografiert hat. Die Bilder des vom Vergangenen übersäten Schlachtfeldes werden in einer Wanderausstellung gezeigt. „Auschwitz“ ist das noch größere Groß-Vorhaben des 1956 geborenen Agfa-Ehrenpreisträgers. Die Fotos sind bei vielen Gedenkveranstaltungen zu sehen. Vielleicht ist jetzt die Stunde dieses Fotografen, der dem Todeshauch der Geschichte nachspürt. Im „Spiegel“ werden gerade die letzten Zeugen aufgerufen, die Auschwitz überlebt haben. Erinnerung verblasst, auch weil viele das alles zu kennen glauben. Zur Genüge. Auf Martin Blumes mit Unschärfe aufgeladenen Bildern tut sich noch einmal ein neuer Assoziationsraum auf. Der auratische Schemen des Lagers, ein Wachturm, der wie im Alptraum in einem Winterwald auftaucht, das Krematorium, verschwommen, durch die Scheiben glüht Licht. Verwaschene Schrift glimmt an abgeblätterten Wänden, „Brausen“, „Verhalte dich ruhig“, schneeverwehte Ansichten von Sperrzäunen, tote Treppen, Ruinen im Lichtgleißen. Blumes Bilder oszillieren zwischen Wahrhaftigkeit und Authentizitätswahrung. Das sehr Gute an ihnen ist, dass sie Platz lassen für eigene Erinnerungsprojektionen und kaum einen Millimeter Fluchtweg. So zeigt ein Foto den Ausgang von Block 16d, in dem die Kinder eingesperrt waren. Er führt ins Grellhelle, statt eines Auswegs wartet eine Nahtoderfahrung. Ein anderes Bild der Schreckensunterkunft verwischen Schwarzweißschlieren, Reste von Kinderzeichnungen an der Wand. Die Menschen darauf erkennt man kaum. Ehemalige Insassen des Blocks 16d, klärt Martin Blume auf. Auf Erinnerungsreise. Schatten mit Vergangenheit.

x