Frankenthal Zwischen „Faszination und Erschrecken“

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Im Landesarchiv Speyer wird am kommenden Dienstag das Buch „Braune Jahre in der Pfalz“ präsentiert – ein Werk, das zuvörderst viele neue Aspekte der NS-Zeit beleuchtet. Und das mit starkem Bezug zu Frankenthal: Herausgeber ist Stadtarchivar Gerhard Nestler, vier Autoren behandeln lokale Themen, stammen aus der Stadt oder arbeiten seit Langem hier. Vorgestellt wird das Buch von Historiker Dieter Schiffmann.

Der ehemalige Direktor der Landeszentrale für politische Bildung stellt vor allem ein Merkmal der Sammlung mit ihren 15 Aufsätzen heraus: Im Vergleich mit älteren Veröffentlichungen habe sich eindeutig Blickwinkel und „Brennweite“ der Geschichtswissenschaft auf die Zeit des Nationalsozialismus verändert. Der Fokus der Forscher liegt nach Schiffmanns Überzeugung inzwischen stärker auf dem Alltagsleben dieser Zeit und weniger auf Politik und staatlichen Institutionen. Die Texte im Buch lieferten Beispiele aus der Pfalz, die sowohl Anpassung an die Nazis und ihre Machtinstrumente dokumentierten als auch ein Stück Widerständigkeit. Mitherausgeber Gerhard Nestler, mit Hannes Ziegler 1993 auch am ersten regionalhistorisch orientierten Band „Die Pfalz unterm Hakenkreuz“ maßgeblich beteiligt, sieht mit der neuen Veröffentlichung weitere „weiße Flecken“ getilgt. Das Buch beleuchte eine Reihe neuer Themen wie etwa die Verfolgung der Zeugen Jehovas und der pfälzischen Separatisten durch die Machthaber nach 1933. Die Widersprüchlichkeit zwischen dem Arrangement mit den Nazis und dem Versuch, Menschen mit allen Mitteln vor ihnen zu schützen, arbeitet Stefan Endres in seinem Aufsatz heraus, der das Verhalten des damaligen Leiters der Frankenthaler Kreis-Taubstummenanstalt behandelt. Der habe einerseits für seine Schüler eine eigene Hitlerjugend gegründet, um sie vor Verfolgung zu bewahren, andererseits aber auch ärztliche Gutachten mit fatalen Folgen für einzelne seiner Schützlinge anfertigen lassen. Zwischen „Faszination und Erschrecken“ hat sich nach eigenem Bekunden Stephan Pieroth bewegt, als er die Tageszeitungen in der Pfalz während des Dritten Reichs für seinen Beitrag intensiver unter die Lupe nahm. Die von Gauleiter Josef Bürckel protegierte „NSZ Rheinfront“ stehe für einen beispiellosen Konzentrationsprozess der Presselandschaft. Historiker Pieroth: „Der Antrieb war gewiss eher ideologisch, es gab aber auch enorme betriebswirtschaftliche Vorteile. Im Grunde sind die Nazis die Erfinder der modernen Regionalzeitung.“ Nestler hat neben der Rolle im Herausgeberteam auch einen eigenen Forschungsbeitrag geleistet und die Zerrissenheit des politischen Katholizismus aufgearbeitet. Wenn er ein neues Buch wie das jetzige druckfrisch in die Hände bekomme, habe er immer Angst vor dem Aufschlagen: „Es ist ja manchmal so, dass man dann direkt einen ärgerlichen Fehler entdeckt“, sagt er mit einem Lachen. Nestler hofft neben historischem Fachpublikum auch darauf, junge Leser zu erreichen. Das Projekt und die Veröffentlichung in der Schriftenreihe des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde hat Alt-Oberbürgermeister Theo Wieder in seiner Eigenschaft als Chef des Bezirksverbands Pfalz unterstützt. Seinen Text am Ende des mehr als 400 Seiten dicken Buchs charakterisiert er als Quintessenz vieler Reden und Texte, die er zu verschiedenen Anlässen gehalten habe. Ihm sei der Bezug zur Zukunft wichtig: „Wie können wir verhindern, dass die damaligen Mechanismen sich wiederholen?“ Einig sind sich alle Frankenthaler Beteiligten übrigens darin, dass mit dem zweiten Band über die NS-Zeit in der Pfalz längst nicht alle Aspekte ausgereizt sind. Dieter Schiffmann nennt stellvertretend das Thema, wie die Nationalsozialisten ihr Modell der „Volksgemeinschaft“ inszeniert haben. „Das erfahrbar zu machen, wäre eine Möglichkeit im nächsten Durchgang“, sagt er. Und Theo Wieder ergänzt: „Mein Eindruck ist: Jede diktatorische Herrschaft braucht diesen Begriff. Manches von dem, was man derzeit bei uns im politischen Raum hört, ist von solchen Dingen nicht allzu weit entfernt.“ Lesezeichen & Termin —Gerhard Nestler, Roland Paul und Hannes Ziegler (Hrsg.), „Braune Jahre in der Pfalz – neue Beiträge zur Geschichte einer deutschen Region in der NS-Zeit“, 2016, Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde, Kaiserslautern, ISBN 978-3-927754-85-0, Preis: 24,90 Euro. —Buchvorstellung am Dienstag, 28. Juni, 20 Uhr, im Landesarchiv, Otto-Mayer-Straße 9, Speyer, Anmeldung beim Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde, Telefon 0631 3647303, E-Mail info@institut.bv-pfalz.de. |örg

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