Kommentar Gratismoral: Soziale Sanktionen gegen Russen, was soll das bringen?

Prominenter Fall: Künstler sollten nicht gezwungen sein, ihre politischen Ansichten öffentlich zu machen, sagt Anna Netrebko.
Prominenter Fall: Künstler sollten nicht gezwungen sein, ihre politischen Ansichten öffentlich zu machen, sagt Anna Netrebko.

Die Absage an Bundespräsident Steinmeier erfolgte lapidar und per Twitter. „Sorry, ich bleibe lieber fern“. Beim „Solidaritätskonzert für die Ukraine“ im Berliner Schloss Bellevue träten „NUR RUSSISCHE (!) SOLISTEN“ auf, „keine UkrainerInnen“, schrieb der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, blau-gelb untermalt, den ukrainischen Nationalfarben. Mehr musste offensichtlich nicht gesagt werden. Und ja, in Gottes Namen, der Pianist Evgeny Kissin und der Bariton Rodion Pogosov sind nun mal beide in Russland geboren, gleichwohl sie dort schon lange nicht mehr leben.

Kissin besitzt neben der russischen auch die israelische Staatsbürgerschaft. Pogosov singt Schubert und Haydn mit Inbrunst. Gespielt wurden in Berlin Werke des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, des Polen Chopin und von Tschaikowsky und Schostakowitsch. Russen, ja und? „Bastarde“ wie der Diplomat Melnyn Menschen ihrer Herkunft nennt, „Orks“ nach den Bösen in Tolkiens „Herr der Ringe“, eine Art Unterkategorie des Humanen. Sein blanker Hass ist – begreifbar, angesichts von Putins Krieg gegen sein Land. Aber weh tut er doch. Er folgt einer überwunden geglaubten Logik der pauschalen Diffamierung und kollektiven Schuldvermutung. Vielleicht haben wir ihr Passé-Sein auch nur erhofft. Letztlich paust sie sich aber auch in den sozialen Sanktionen durch, die jetzt gegen alles, was aus Russland kommt, verhängt werden. Und seien es russische Katzen, die nach einem „Washington Post“-Bericht jüngst bei einem Wettbewerb der Internationalen Katzenföderation nicht mehr antreten durften. Russische Katzen.

An der Uni Mailand ist für eine Weile Dostojewski aus den Lehrplänen gestrichen worden. Wie in nebenstehendem Bericht steht, wurde ernsthaft überlegt, den deutsch-russisch-finnischen Film „Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen zu boykottieren, weil seine beiden Hauptdarsteller aus Russland kommen. Fehlt nur noch, dass man das „Z“ als Pro-Kriegs(z)eichen aus dem Alphabet verbannt.

Der 20-jährige russische Pianist Alexander Malofeev jedenfalls wurde vom Montreal Symphony Orchestra, mit dem er debütieren sollte, nach Protesten wieder ausgeladen. Und das, obwohl er sich offen gegen die russische „Invasion“ in der Ukraine ausgesprochen hatte, wo seine Familie teilweise lebt. Seine Karriere stockt, weil er den „falschen“ Pass hat. Bei der Sopranistin Anna Netrebko aus Krasnodar, einem Weltstar, scheint sie zu Ende, weil sie sich weigert, offen gegen Putin Stellung zu beziehen. Konzerte sind gecancelt. Ihre Agentur hat sich von ihr getrennt. Sie gilt als Unterstützerin des Diktators, was nun so viel bedeutet, als sei sie in einen immerwährenden Stimmbruch geraten.

Netrebko, das schon, hat vor der Präsidentschaftswahl 2012 eine Petition pro Putin unterschrieben, die ihn als „starken Mann und im Augenblick gut für Russland“ feiert. Seit 2008 ist sie „Volkskünstlerin Russlands“. Allerdings galt Putin zu diesen Zeiten auch nicht allen westlichen Politikern als letztgültiger Gottseibeiuns. Inzwischen aber schreibt Netrebko auf Instagram Sachen wie: „Ich bin gegen diesen sinnlosen Angriffskrieg und rufe Russland auf, den Krieg genau jetzt zu beenden.“ Dazu stellt sie ein Bild von sich ins Netz, das sie mit ihrem in München geschassten Landsmann, dem Dirigenten Valery Gergiev zeigt, beide verbeugen sich. In Moskau wäre Netrebko dafür verhaftet worden. Sie lebt aber in Wien. So leicht wie der Gratismut, jetzt alles Russische und vermeintlich Putinnahe auszugrenzen, ist der Fall nun auch wieder nicht.

Falsche Töne und brennende Schulen

Was soll es denn auch bringen, wenn nur noch nichtrussisch miauende Miezen Wettbewerbe gewinnen. Gesinnungsgeprüfte Tenöre singen dürfen. Vor allem im Kulturellen sind symbolische Ersatzhandlungen, noch dazu im Gestus kostenloser moralischer Selbsterhöhung vorgetragen, geradezu kontraproduktiv. Wird Putin jetzt einknicken, weil das Internationale Musikfestival Colmar abgesagt worden ist, offiziell mit der verqueren Begründung, „die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts“ in der Ukraine sei „nicht mehr gegeben“? In Wahrheit wohl, weil der künstlerische Leiter Vladimir Spivakov nicht allen als astreiner Putin-Kritiker gilt. Aber muss er das, um weltumspannende Musik zu dirigieren? Und andersrum gefragt, unterstützt die Russen-Dämonisierung im Gegenteil nicht schon bestehende Ressentiments. Dass in Berlin eine deutsch-russische Schule angezündet worden ist? Und was bedeutet es schließlich für die Antikriegsdemonstranten in Moskau, Russen auch sie, wenn sie alle in einen Topf geworfen sind mit einem Kriegsverbrecher. Himmel! Sie riskieren für Ihre Überzeugung ihre Zukunft, statt eines Operntickets, das verfällt.

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