Filmfestspiele Cannes Frederick Wiseman: Der große 91-Jährige Dokumentarfilmer ist voller Energie

Frederick Wiseman (91) ist der älteste lebende Dokumentarfilmer. Er erzählt in Cannes, wie seine Filme entstehen.
Frederick Wiseman (91) ist der älteste lebende Dokumentarfilmer. Er erzählt in Cannes, wie seine Filme entstehen.

Er ist 91, schneidet gerade seinen neuen Film und tänzelt leichtfüßig die Stufen noch auf die Bühne der Festivalsektion Quinzaine: Frederick Wiseman. Der größte lebende Dokumentarfilmer wird mit der „Carrosse d’or“ (goldene Kutsche, so benannt nach einem Film von Jean Renoir) für sein Lebenswerk geehrt, wie vor ihm schon Clint Eastwood, David Cronenberg und Werner Herzog.

In fließendem Französisch mit wenig Akzent erzählt der Amerikaner, der seit über 50 Jahren Dokumentarfilme dreht, die unter die Haut gehen, weil niemand den Alltag so lebensnah filmt, aus seinem Leben. Von dem Dreh in einer Irrenanstalt („Titicut Follies“, 1967, seine erster Film), den Drill bei der US-Army („Basis Training“ 1971), die Pfleger in einer Intensivstation im Krankenhaus („Near Death“, 1989), die Arbeit des Gemeinderates einer Kleinstadt („Monrovia, Indiana, 2018) und einer Großstadt wie Boston („City Hall“, 2019), aber in Europa auch hinter den Kulissen der Pariser Oper („La Danse“, 2009) und eines große Londoner Museums („National Gallery“, 2014).

Seine Filme sind zwei bis sechs Stunden lang. Er beobachtet die Menschen, er gibt keinen Kommentar, seine Filme sind subjektiv. Nichts ist nachgestellt, alles ist echt. Weil die Gefilmten schnell vergessen, dass sie gefilmt werden, kommen Details an die Oberfläche, die man normalerweise nicht weiß. In Frankreich ist der Ehren-Oscar-Preisträger (2017) Kult, sein komplettes Werk gibt es in drei Boxen mit zusammen 40 DVDs.

Beim Publikumsgespräch in Cannes verrät er das Geheimnis seines Erfolges, am Beispiel von „Monrovia, Indiana“: Zehn Wochen lang habe ich in Monrovia gedreht, 150 Stunden, alles ist Zufall. Ich habe keinen Drehplan, ich filme die Menschen. Wenn ich drehe, habe ich keine Idee, wie der Film wird. Da passiert immer viel Unvorhersehbares. Der Film entsteht erst dann, wenn ich ihn schneide. Erst im fortgeschrittenen Stadium der Montag weiß ist, wie er aussehen wird. Dass es Monrovia wurde, ist auch Zufall. Ich wollte in einer Kleinstadt im Mittelwesten drehen und habe das einer Freundin aus Boston erzählt. Sie erzählte mir, dass sie eine Freundin an der Indiana Universität hat. Ebenso zufällig bin ich an die Universität von Indiana eingeladen worden, und die Professorin dort kannte jemand ganz oben in der Stadtverwaltung von Monrovia. So etwas ist hilfreich, wenn man drehen will – und so drehte ich in Monrovia.“

Wiseman sagt von sich, er sei ein Einzelgänger, der isoliert arbeitet und nicht viel Kontakt zur Filmindustrie hat, aber seine Filme werden geschätzt – und kopiert, zum Beispiel von Stanley Kubrick. „Eines Tages kam ein Anruf von Kubricks Sekretärin, Herr Kubrick will „Basis Training“ sehen. Ich sagte, er hat genug Geld, er kann eine Kopie zum Ansehen bestellen. Die Anfrage kam, die Kopie wurde verschickt – und war nach einem Jahr immer noch nicht zurück. Später sah ich warum: Scorsese drehte gerade seinen Army-Spielfilm „Full Metal Jacket“ (1987), sah sich meinen Dokumentarfilm an und kopierte etliche Szenen. Ich fühlte mich sehr geehrt von diesem großen Cineasten.“

Der energiegeladene 91-Jährige hat gerade die Dreharbeiten zu seinem Spielfilm beendet, denn es ist schwierig, in Zeiten von Corona Dokumentarfilme zu drehen, man kann doch nicht Menschen zeigen, die Masken tragen. Das ist uninteressant. Man sieht nur die Augen und ein Stück Nase, eine Katastrophe. Da fehlt der Ausdruck.“ Nun hat er für die Schauspielerin Nathalie Boutefeu, mit der vor zehn Jahren im Theater zusammenarbeite, einen Monolog geschrieben: „The Couple“. Das Spielfilm-Genre ist ihm nicht fremd: „Dokumentarfilme sind ebenso wie Theaterstücke, Romane oder Gedichte eine Form von Fiktion.“

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