Rheinpfalz Leitartikel: Komplett vernebelt

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Autokonzerne haben ihre Kunden betrogen und stehlen sich dreist aus der Verantwortung. Und die Politik besinnt sich noch immer nicht auf ihre Pflichten. Deutschland bremst sich aus.

Klare Sache: Die deutsche Automobilindustrie ist ein wichtiger Motor der deutschen Wirtschaft. Genauso wahr ist aber: Der Dieselskandal ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie staatlicher Protektionismus die Zukunft nicht nur eines Wirtschaftszweigs aufs Spiel setzen kann. Bei Grenzwerten ist Deutschland Bremser, um die deutschen Autokonzerne zu schützen. Schon im Jahr 2013 blockierte die als Klimakanzlerin gefeierte Angela Merkel strengere Kohlendioxid-Grenzen in der Europäischen Union. Nach Bekanntwerden des Dieselskandals hat das Kanzleramt nach einer Recherche der „Zeit“ in Brüssel dafür gesorgt, dass in der EU die Stickoxidwerte bei den nun geplanten realistischeren Abgastests für eine mehrjährige Übergangszeit großzügig überschritten werden dürfen. Die Gesundheit der Bürger wird Risiken ausgesetzt. Laut Umweltbundesamt wurde 2016 der Grenzwert für die Stickoxid-Belastung in über 80 Städten nicht eingehalten – folgenlos. Weil anhaltend gegen die Standards zur Luftqualität verstoßen wird, strengt die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland an. Gut, dass die EU auf die Einhaltung des Rechts pocht. Gut, dass die Deutsche Umwelthilfe mehrere Bundesländer verklagt hat und dass das Stuttgarter Verwaltungsgericht Fahrverbote für Dieselfahrzeuge ab 2018 möglich machte. Ohne das alles müssten die Städter wohl noch viele Jahre weiter schlechte Luft atmen. Man muss es so scharf sagen: Die Autoindustrie ist in Deutschland eine Branche mit der Lizenz zum Rechtsbruch. Obwohl etliche Experten seit Jahren auf die Kluft zwischen Luftqualität und offiziellen Abgaswerten hinweisen und obwohl es schon 2003 Vorwürfe wegen Abgasmanipulationen bei Lkw gab, kam das Kraftfahrtbundesamt nicht auf die Idee, Autos unter Alltagsbedingungen zu testen. Es war eine US-Behörde, die 2015 die VW-Betrugssoftware nachwies – eine Blamage für das deutsche Prüfsystem. Millionen Dieselkäufer haben Autos gekauft, die dreckiger sind als versprochen, vielleicht bald nicht mehr in alle Städte fahren dürfen und sich nur noch mit Verlust losschlagen lassen. Auf dem Dieselgipfel sagten die deutschen Autobauer großmütig ein Softwareupdate zu, das 25 bis 30 Prozent Verbesserung bringt. Das ist ein Witz angesichts der Tatsache, dass manche Modelle den erlaubten Wert um das Fünffache überschreiten. Die teurere Lösung lehnen die Autobauer ab: eine Nachrüstung unter der Motorhaube, die laut ADAC den Stickoxid-Ausstoß um bis zu 90 Prozent senken könnte. Und die Politik lässt das zu. So wie sie seit Jahren parteiübergreifend der Branche zu Hilfe eilt, wann immer diese ruft – auf Bundesebene und in den Autoländern, vom rot-grünen Niedersachsen über das schwarz-gelbe Nordrhein-Westfalen bis zum grün-schwarzen Baden-Württemberg und dem tiefschwarzen Bayern. Nun, scheint es, muss gerettet werden. Der Diesel, die Pendler, die 800.000 Arbeitsplätze der Branche und die 300.000 der Zulieferer – in einer großen verbalen Abgaswolke vernebeln Politiker und Verbände dabei munter die Verantwortlichkeiten. Dabei sind die sonnenklar: Die Anzahl seiner Arbeitsplätze berechtigt ein Unternehmen weder zu Kartellabsprachen noch zu Betrug. Wo Euro 5 oder Euro 6 draufsteht, muss das auch drin sein. Wenn nicht, verdient der Kunde Ersatz oder Entschädigung. Es gibt keinen Grund, dass der Steuerzahler Schummlern hilft, ihre Suppe auszulöffeln. Das wäre auch ungerecht gegenüber Firmen, die ordentlich gearbeitet und sich besser an die Vorschriften gehalten haben. Die Verkehrspolitik hat ganz andere Aufgaben. Sie muss vorausschauend die Mobilität in unserem Land umsteuern, und dafür darf sie gern Geld ausgeben, denn Vorreiter sind die Deutschen hier nicht. Wir brauchen neben sauberen Autos eine Vielzahl an Verbesserungen: intelligente Verkehrssteuerung, smarte Verleih- und Mitfahrsysteme, einen innovativen elektrischen öffentlichen Nahverkehr und, und, und. Wenn deutsche Anbieter hier Lösungen entwickeln, stärkt das auch die Wirtschaft. Den Diesel zu retten – oder ihn zu töten – ist dagegen nicht Aufgabe der Politik. Sie soll schlicht Ziele und Anforderungen formulieren, und zwar früh genug, damit sich die Industrie darauf einstellen kann. Ob der Diesel Zukunft hat und welche, oder ob eine andere Antriebsart das Rennen macht, das müssen die Experten in den Forschungsinstituten und die Ingenieure und Strategen in den Konzernen austüfteln. Durch die Liebedienerei, den Protektionismus und das Wegschauen der Politik ist die deutsche Autobranche nicht stärker geworden, nur träger. Die internationale Konkurrenz setzt zum Überholen an. Volvo will ab 2019 neue Modelle ausschließlich mit Elektromotor anbieten. Tesla hat eine halbe Million Vorbestellungen für sein Model 3. Toyota punktet mit Hybriden. Und allenthalben verändert sich der Markt: Norwegen will ab 2025 nur noch emissionsfreie Neuwagen zulassen, Indien ab 2030. Frankreich und Großbritannien wollen ab 2040 Verbrennungsmotoren auf ihren Straßen verbieten. Deutschland hat sich ausgebremst. Die Autokonzerne müssen sich ehrlich dem internationalen Wettbewerb stellen. Nicht mit Schummelei made in Germany. Sondern mit dem guten alten Audi-Slogan im Herzen: Vorsprung durch Technik.

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