Internet Youtube-Trend ASMR: Gänsehaut fürs Gehirn mit Miss Mi

Sie bürsten sich das Haar, tippeln mit Fingernägeln auf Holz, schmatzen ins Mikro – minutenlang, stundenlang. ASMR-Videos sind der Entspann ungshype der Online-Generation. In Mainz tauchen wir mit der erfolgreichsten deutschen Youtuberin des Genres in das Kopf-Kribbel-Universum ein.

Eigentlich hatte ich im Internet nur nach einer Anleitung für eine Kopfmassage gesucht, um mich selbst nach einem langen Arbeitstag zu entspannen. Da blickt mich auf einmal eine Frau in Nahaufnahme übers Display an, streckt mir ihre Hand entgegen, streichelt mich durch den Bildschirm hindurch und flüstert mir sanfte Wohlfühl-Worte zu. Äh? Was ist das? Was soll das? Das war mein erster Zufallskontakt mit ASMR. Verstörend und faszinierend zugleich.

Wirft man dann einmal die Internet-Suchmaschine dazu an, eröffnet sich schlagartig ein gigantisches Reich aus Klopfen, Knistern, Rascheln, Hauchen. ASMR ist weltweit der drittmeistgesuchte Begriff auf der Video-Plattform Youtube. Es gibt Millionen von Videos, in denen Menschen vor einer Kamera sitzen und Luftpolsterfolie ploppen, Flüssigkeiten in Gefäße umgießen, mit Stöckchen durch Sand streichen oder andere erschreckend langweilige Dinge tun – bis zu zwölf Stunden am Stück. Und Millionen von Menschen schauen sich diese täglich an, lassen sich in die Geräuschewolken fallen, um darin Entspannung zu finden. Die Meditation des gehetzten Smombie-Zeitalters sozusagen.

Kennen Sie noch die Kopfmassagespinnen?

ASMR bezeichnet ein kribbelndes angenehmes Gefühl auf der Haut („Tingles“ genannt), das sich vom Kopf aus über den oberen Körper ausbreiten kann. Kennen Sie noch diese Kopfmassagespinnen mit 20 Metallfingern, mit denen man sich wohlige Schauer herbeikraulen kann? So in etwa soll sich das ASMR-Kribbeln anfühlen. Es versetzt die Menschen in relaxte Stimmung, weshalb viele die Videos zum Runterkommen oder vor dem Einschlafen nutzen. Ausgelöst werden diese Empfindungen durch akustische, visuelle oder taktile Sinnesreize, „Trigger“ genannt. Neben Geräuschen können also auch beruhigende Handbewegungen, bunte Lichter oder leichte Berührungen am Kopf den Gänsehauteffekt hervorrufen.

Die Abkürzung ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response, zu deutsch Autonome sensorische Meridianreaktion. Klingt höchst wissenschaftlich, ist allerdings ein reiner Fantasiebegriff, den sich eine Amerikanerin 2010 ausgedacht haben soll, nachdem sie im Internet vergeblich nach einem Namen für jenes Phänomen suchte. Seitdem – noch mal angeheizt durch die Corona-Einsamkeit – hat es sich zu einem der größten Youtube-Genres weltweit entwickelt, und zu einem der kontroversesten. Manche schmelzen in die Geräuschekulissen wohlig hinein, bei anderen rufen sie nur Genervtsein und Kopfschütteln hervor.

Gut leben von den Werbeeinnahmen

Miss Mi denkt aber nicht, dass es Menschen gibt, die gar nichts mit ASMR anfangen können. „ASMR ist wie Musik, jedem gefällt ein anderes Genre. Nur weil man vielleicht Metal oder Schlager nicht leiden kann, heißt das ja nicht, dass man generell gegen Musik ist“, findet Mina, die ihren vollständigen Namen nicht in der Öffentlichkeit preisgeben will. Die 32-Jährige ist vor einem halben Jahr von Hamburg nach Mainz gezogen. Seitdem lebt in Rheinland-Pfalz die reichweitenstärkste ASMR-Künstlerin Deutschlands. In ihrer Wohnung produziert sie täglich Gehirn-Kitzel-Videos, die ihr innerhalb von vier Jahren 1,4 Millionen Abonnenten bei Youtube und 4 Millionen bei TikTok beschert haben. Bei solchen Zahlen kann man von den Werbeeinnahmen auf der Videoplattform gut leben, weshalb sie ihren Agentur-Job vor zwei Jahren an den Nagel gehängt hat. Wie bei Musik reagierten die Menschen auch auf ASMR unterschiedlich, hat sie beobachtet. Manche mögen zuwendungsvolle Wisperstimmen, andere nur sich wiederholende Hintergrundgeräusche. ASMR habe durch die Online-Videos zwar einen Namen bekommen, sagte sie, im Grunde sei das Phänomen aber schon immer da gewesen. „Naturgeräusche sind auch ASMR.“ Regenprasseln oder Blätterrascheln im Wald empfinde jeder als angenehm.

Viele Nutzer lassen sich von den flüsterleisen, monotonen Videos einlullen, um tranceartig in einen Entspannungsmodus zu driften. Wie oft dabei aber auch jenes ominöse ASMR-Kribbeln im Spiel ist, ist unklar. Selbst Mina sagt, dass sie die ASMR-Erfahrung zwar von Anfang an „geflasht“ habe, das erste Kribbeln auf der Haut aber eine Weile auf sich warten ließ. Und dass es bei ihr auch nur von ganz bestimmten Triggern ausgelöst werde, wie bei Pinseln, die sanft übers Mikro streichen, oder bei Mundgeräuschen mit glossklebrigen Lippen.

Wissenschaftliche Erklärung fehlt

Und was sagt die Wissenschaft? Ist der Gehirn-Kitzel real oder ein Hirngespinst? Der Neurologe Steve Novella von der Yale University School of Medicine geht davon aus, dass nicht jeder in der Lage ist, diese Empfindung zu erleben, da sich die Menschen neurologisch unterscheiden.

Seit sich die „Ohrgasmus“-Videos zum digitalen Valium der Massen aufgeschwungen haben, rücken sie zunehmend in den Blick der Forschung. Eine wissenschaftliche Erklärung, welche körperlichen oder psychischen Mechanismen ASMR auslösen, fehlt aber bislang. Dass die Videos bei vielen eine beruhigende Wirkung auslösen könnten, sei jedoch nachweisbar – „einerseits durch die Erlebnisberichte der User, andererseits durch unsere Forschung zum Arousal (Erregtheit) oder der Herzfrequenz“, sagt Claus-Christian Carbon in einem Interview mit der Barmer-Krankenkasse. Der Wahrnehmungspsychologe an der Universität Bamberg gilt als führender Kopf der ASMR-Forschung in Deutschland. Eine Online-Untersuchung der University of Sheffield mit 1000 Teilnehmern kam zu dem Schluss, dass die Videos einen Entspannungszustand auslösen, begleitet von typischen körperlichen Veränderungen wie einer reduzierten Pulsrate. Bei einem Laborexperiment mit 110 Probanden wurde ein erhöhter Hautleitwert und ein langsamerer Herzschlag festgestellt. Die Werte waren vergleichbar mit der Wirkung, die konventionelle Entspannungsmethoden erreichen.

„Immer wieder eine neue Sau durchs Dorf“

„Gerade beim Thema Schlaf wird immer wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben“, ist die Beobachtung des Südpfälzer Sonologen Hans-Günter Weeß, eben weil es so viele betreffe. Laut dem Leiter des Schlafzentrums am Pfalzklinikum haben ein Viertel bis ein Drittel der Deutschen Probleme mit dem Schlaf, bei sechs bis zehn Prozent davon seien die Schlafstörungen behandlungsbedürftig. Im Schlaflabor in Klingenmünster werden jährlich rund 2000 Patienten behandelt. ASMR kam dabei noch nie zum Einsatz, und Weeß hat es auch nicht vor. Denn er bezweifelt, dass ein großer Teil der Betroffenen von ASMR profitieren könnte. Die Videos sprächen wohl eher die jüngere, medienaffine Zielgruppe an, während Schlafstörungen meist in der zweiten Lebenshälfte akut würden. Dennoch zieht er die Wirksamkeit der Geräusche- und Flüsterkulissen für manche Menschen nicht in Zweifel. Er sieht es pragmatisch: Entscheidend für das Einschlafen sei die Beruhigung, das Loslassen von den Sorgen des Alltags, gute Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit – und dabei sei es egal, ob diese nun durch ein Hanni-und-Nanni-Hörbuch, autogenes Training oder Videos erzielt würden. ASMR sei eine Entspannungsmöglichkeit von vielen, aber nach seiner Einschätzung gibt es effektivere – wie eine Fantasiereise. Aber: „Es gibt keinen universellen Schalter, viele Wege führen nach Rom respektive in den Schlaf.“

Mina kennt die Vorurteile, mit denen ASMR behaftet ist. Als sie mit den Videos anfing, erzählte sie es zunächst niemandem. „Man wird als seltsam abgestempelt.“ Mittlerweile werde sie aber sogar von Unis für Studien angefragt, erzählt sie stolz. Was ihr aber wirklich das Herz aufgehen lasse, sei die enge Verbindung zu ihrer Community, ihrer „Miss-Mi-Familie“. In jüngster Zeit werden die Massage-Videos fürs Gehirn nämlich auch zu Streichlern für Herz und Seele. Innerhalb der ASMR-Szene bilden sich immer wieder neue Trends. Nahm das Ganze seinen Anfang mit koreanischen Mukbang-Videos, in denen man Leuten beim Vertilgen gewaltiger Essensmengen zusieht, sind aktuell Rollenspiele und „personal attention“ (persönliche Aufmerksamkeit) gefragt.

Virtuell das Gesicht eincremen

In Hunderten Videos cremt Miss Mi ihren Followern liebevoll durch den Bildschirm das Gesicht ein, kämmt ihnen die Haare, schminkt sie und bedenkt sie mit aufbauenden Worten. Dabei spricht sie den Zuschauer direkt an, sodass diesem vermittelt wird, dass es in diesem Moment allein um ihn geht. „Ich habe Menschen, die alleine leben, oder Jugendliche in meiner Community, die sich die Videos anschauen, um sich geborgen zu fühlen“, berichtet sie. Aber betont: „Ich bin keine Psychologin und kann keine Krankheiten therapieren.“ Das stehe übrigens auch unter jedem Video. Aber positive Affirmationen könne doch jeder gut gebrauchen, findet sie. Wieso die Wisperstimme so einen Reiz für viele hat? „Flüstern hat etwas Geheimnisvolles. Wenn jemand tuschelt, ist man gleich neugierig, was da passiert. Und dadurch ist man aufmerksamer“, erklärt Mina.

In ihrer Welt ist alles quietschbunt. In Regalen stapeln sich Unmengen von knuffigen Spielzeugen, Deko- und Scherzartikeln, denen sie Geräusche entlockt. Sie trägt immer ein Lächeln auf den Lippen, strahlt Herzlichkeit aus jeder Pore, ein aufgemaltes Herzchen im Augenwinkel ist ihr Markenzeichen. Miss Mi verkörpert unter den ASMR-Künstlern die gute Freundin. Entsprechend sind ihre Nutzer zu 70 Prozent weiblich und die meisten zwischen 14 und 25 Jahren

Und natürlich: Sex sells

Es gibt aber auch noch eine ganz andere Richtung, in die ASMR ausschlägt: Sex sells. Wenn Youtuberinnen hingebungsvoll und verführerisch ins Mikro raunen, Lippen und Zunge der Kamera so nah kommen, als ob sie den Zuschauer berühren wollten, und bei Rollenspielen etwa als Krankenschwester typische Klischees bedient werden, spielt das Genre mit seinem erotischen Charakter. Auch wenn es Aussagen dazu gibt, dass der eigentliche ASMR-Effekt zwar ein Wohlbefinden, aber keine sexuelle Erregung auslöst, geistert eine Vielzahl von ASMR-Videos auf einschlägigen Pornoseiten herum. Manche ASMR-Youtuberin verdient sich auf der Plattform „Only Fans“ mit expliziten Inhalten ein Zubrot. „An sich ist ASMR nicht sexuell“, stellt Miss Mi klar, „aber es kommt natürlich auf den Content Creator an, wie er sich darstellen und verkaufen möchte.“ Ihre Schiene sei das nicht, aber jeder solle sich so ausleben, wie er sich wohlfühle, sagt sie.

Natürlich hat nicht nur die Pornoindustrie ASMR für sich entdeckt, auch in Nicht-FSK-18-Filmen bedient man sich gerne des Kribbelns im Kopf, etwa in „Toy Story 2“. Über zwei Minuten repariert der alte Geri mit Hingabe Spielzeug-Cowboy Woody - voller Nahaufnahmen und Geräusche-Stimulanzen aus der Werkzeugkiste. Die Szene hat Kultstatus in der ASMR-Szene. Unter dem Titel „Die befriedigendste Filmszene aller Zeiten“ hatte der Ausschnitt bei Youtube rund 25 Millionen Aufrufe.

Billie Eilish weiß Bescheid

Auch die Musikbranche schöpft aus dem Genre. Die mehrfach grammy-prämierte Sängerin Billie Eilish flüstert mit sonorer Stimme ins Mikro und lässt im Song „Bury A Friend“ klanglich einen Zahnarztbohrer ins Ohr krabbeln. Und wer wüsste besser, was beim Konsumenten die Neuronen kitzelt, als die Werbeindustrie? Der schwedische Möbelgigant Ikea strahlte 2017 einen Werbespot aus, in dem eine Frau 25 Minuten lang Einrichtungsgegenstände streichelt. Bereits ein Jahr früher hatte der Südpfälzer Baumarkt-Riese Hornbach die neue Sinneswelt aufgespürt und mit der Kampagne „Du lebst. Erinnerst du dich?“ eine 16-teilige ASMR-Video-Reihe herausgebracht. In den Clips kann man Händen dabei zuschauen und zuhören, wie sie sich in nasse Erde, Teichfolie, Pflanzensamen und Co. vergraben.

Doch was wäre all dies ohne den Urvater des ASMR? Noch bevor das Kind einen Namen hatte, war er der Flüsterkünstler für die Ruhelosen. In den 90ern führte kein Weg an Wuschelkopf-Fernsehmaler Bob Ross vorbei, wenn man akustische und visuelle Baldriantropfen zum Einschlafen brauchte. Die sanfte Stimme, das Schrubben des Pinsels auf der Leinwand, das Kratzen des Malspachtels und das befriedigende Gefühl, wenn sich unvermittelte Striche wie durch Zauberhand in eine idyllische Landschaft verwandeln. Urlaub fürs Gehirn und garantierter Türöffner zum Lummerland.

Dieser Artikel stammt aus der RHEINPFALZ am SONNTAG, der Wochenzeitung der RHEINPFALZ. Digital lesen Sie die vollständige Ausgabe bereits samstags im E-Paper in der RHEINPFALZ-App (Android, iOS). Sonntags ab 5 Uhr erhalten Sie dort eine aktualisierte Version mit den Nachrichten vom Samstag aus der Pfalz, Deutschland und der Welt sowie besonders ausführlich vom Sport.