Rheinland-Pfalz „Eckdaten für die Inklusion sind zu schlecht“

Die sogenannten Schwerpunktschulen, in denen in Rheinland-Pfalz beeinträchtige und nicht beeinträchtige Kinder gemeinsam unterrichtet werden, seien eine halbherzige Zwischenlösung, sagt Gerhard Bold. Ohne eine ausreichende Anzahl von Förderlehrern könne die Inklusion schon gar nicht gelingen, so der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), der nach eigenen Angaben in Rheinland-Pfalz 5400 Mitglieder zählt. Unser Redakteur Arno Becker hat mit Gerhard Bold gesprochen.

Seit Mitte November hat Rheinland-Pfalz eine neue Bildungsministerin. Was ist ihr erster Eindruck, macht sie ihren Job gut?

Ja, schon als Frau Reiß noch Staatssekretärin war, habe ich positive Erfahrungen mit ihrer Arbeit gemacht. Mir ist die Besetzung sehr recht. In den Realschulen plus unterrichten ausgebildete Realschullehrer und ausgebildete Hauptschullehrer nebeneinander. Die Hauptschullehrer kriegen für die gleiche Arbeit jedoch weniger Geld. Dagegen kämpft der VBE schon lange. Vor Weihnachten haben sie einen Teilerfolg vor dem Bundesverwaltungsgericht erstritten. Das Land wurde dazu verdonnert, die Aufstiegsprüfung für die Hauptschullehrer zu erleichtern, damit diese eine realistische Chance bekommen, wie Realschullehrer bezahlt zu werden. Was erwarten Sie nun von der Landesregierung? Das Urteil ist mehr als ein Teilerfolg. Das Gericht hat bescheinigt, dass die rheinland-pfälzische Praxis rechtswidrig ist. Die derzeit von aufstiegswilligen Hautschullehrern verlangte schriftliche Hausarbeit ist eine zu hohe Hürde und muss ersatzlos gestrichen werde. Künftig müssen die Betroffenen nur noch ihre praktische Lehrbefähigung nachweisen. Das ist Ihre Auslegung des Urteils, welche ganz konkreten Forderungen leiten sie daraus ab? Ich erwarte, dass die Betroffenen, das sind landesweit bis zu 4000 Hauptschullehrer, künftig nur noch im Beisein des Schulleiters oder der Schulaufsicht vor der Klasse nachweisen müssen, dass sie in einer Realschule plus unterrichten können. Das dürfte für keinen dieser Lehrer ein Problem sein. Folgerichtig muss das Land Sorge dafür tragen, dass nach bestandener Unterrichtsprüfung die jeweilige Stelle hochgestuft wird. Ein großes Thema im Land ist die Inklusion, also die gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung in sogenannten Schwerpunktschulen. Seit Sommer dürfen die Eltern frei wählen, ob sie ihre Sprösslinge in eine solche Schwerpunktschule oder in eine Förderschule schicken wollen. Sie sagen, in den Schwerpunktschulen fehlen schon heute 1000 Lehrkräfte, um Inklusion erfolgreich umzusetzen. Wie rechnen Sie? Der gemeinsame Unterricht ist eine Erschwernis für die Lehrer und eine besondere Situation für alle Kinder. In den 1990er Jahren gab es vor Einführung der Schwerpunktschulen einen Schulversuch mit anschließenden Empfehlungen. Demnach wurde von einer fast durchgängigen Besetzung der Klassen mit zwei Lehrkräften ausgegangen. Daraus errechnet sich der heutige Fehlbedarf. Aber woher sollen die von Ihnen geforderten Förderschullehrkräfte kommen? Es fehlt ja heute schon an Nachwuchskräften. Ja, so ist es leider. Seit etwa einem Jahr werden Lehrkräfte eingesetzt, die eigentlich für Grundschule, Realschule plus oder Gymnasium ausgebildet sind. Würden die Arbeiten des Augenarztes von einem Urologen gemacht, würden die Leute das auch nicht klaglos hinnehmen. Also müssten einfach mehr junge Leute zu Förderschullehrern ausgebildet werden? Leider Gottes müssen wir feststellen, dass viele Absolventen nach der Ausbildung in andere Bundesländer wechseln. Vom jüngsten Lehrgang des Studienseminars in Kaiserslautern waren das mehr als die Hälfte. Woran liegt das? Ich gehe davon dass in Rheinland-Pfalz die Rahmenbedingungen für die Inklusion zu schlecht sind. Von der Idee der Schwerpunktschulen halten sie offenbar nicht viel? Die UN-Konvention verpflichtet uns zur Inklusion. Nimmt man diese ernst, müssten Kinder mit Förderbedarf dort betreut werden, wo sie leben und groß werden, also auch in der nächstgelegenen Schule. Sobald man sie dort wegnimmt und woanders hinfährt, ist das für mich eine andere Form von Förderschule. Unsere Schulsystem muss sich so ändern, dass jede Schule den Anspruch hat, Inklusion zu ermöglichen. Schwerpunktschulen sind allenfalls eine Zwischenlösung.

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